Der Fachkräftemangel erreicht den Journalismus. Das ist die Erkenntnis, die sich aus den vielen Gesprächen verdichtet, die wir mit Chefredakteur*innen, Personaler*innen oder Studierenden führen. Wir suchen den Austausch mit Unternehmen, um herauszufinden, an welchen Themen im Bereich Recruiting sie arbeiten. Der Studiengang Digitaler Journalismus führt Infoveranstaltungen für Studieninteressierte durch, aber auch „Infolunches für Unternehmen“. Ich habe hier eine Keynote zum Thema „Aus der Traumberuf! Warum immer weniger junge Menschen Journalist*in werden wollen – und was man dagegen tun kann“ gehalten. Diese und die Diskussion fasse ich hier noch einmal zusammen – in unserem Format „5 Learnings“.
5 Learnings… beim Infolunch zum Fachkräftemangel im Journalismus
1. Geh‘ dem Fachkräftemangel auf den Grund und schone Dich dabei nicht!
Warum sind der Beruf und seine Organisationen nicht mehr attraktiv für junge Talente? Aus Gesprächen, persönlichen Erfahrungen, Studien und Umfragen ergeben sich fünf Gründe:
Strukturelle Gründe: Mit dem Ende der klassischen Geschäftsmodelle sind Unsicherheiten in eine Branche eingekehrt, die mit der Suche nach neuen Erlösmodellen nicht einfach beiseite gefegt werden können. Es gab lange Zeit Abwehrkämpfe, Enttäuschungen und zuletzt die Hoffnung auf die Übertragung des One-Size-Fits-All-Prinzips ins Digitale mit den Digital-Abos. Gut, die New York Times ist gerade erfolgreich mit dem Gegenteil: Debundling der Inhalte ist der große Abo- und Geldbringer.
Die Reaktionen auf das Bröckeln des klassischen Geschäftsmodells waren und sind oft klassisch buchhalterische Antworten gewesen: Sanierungsprogramme, Einsparprogramme, Kündigungsprogramme. Neulich hat ein Branchenmagazin mit „Abrissbirne“ getitelt – der Ort, der davorstand, tut nichts zur Sache. Wer will schon als junger Mensch unter einer Abrissbirne arbeiten.
Ökonomische Gründe: „Prekarisierung im Journalismus“ lautet der Titel einer Studie, die die LMU München im vergangenen Jahr aufgelegt hat. Sie hat die Verdienst-, Lebens- und Zufriedenheitsverhältnisse unter festangestellten wie freien Journalist*innen abgefragt. Die Ergebnisse sind ernüchternd. Hier zwei Ausschnitte: 2.300 Euro netto verdienen Journalist*innen im Schnitt. Frauen (ca. 2.000 Euro) dabei weniger als Männer (ca. 2.500). Zweitens: 40 Prozent der Befragten gehen noch einer Nebentätigkeit nach. 40 Prozent! Das heißt: Journalismus „ernährt“ Journalist*innen nicht mehr! Dem geringen Verdienstversprechen steht allerdings ein extrem hoher, ja „elitärer“ Anspruch der Arbeitgeber*innen an den Bildungsweg von potentiellen Bewerber*innen gegenüber. Abitur. Klar. Abgeschlossenes Studium. Klar. Berufserfahrung. Klar. Dieses Auseinanderklaffen entspricht nicht den Erwartungen der jungen Menschen. Sie wollen fair bezahlt werden.
Inklusive Gründe: Die Digitalisierung sorgt für den Verlust des News- und Deutungsmonopols klassischer Medien und für eine „Demokratisierung“ der Produktionsmittel des individuellen Publizierens und Sendens. Als Rezo sein erstes CDU-Pamphlet "Die Zerstörung der CDU" auf YouTube veröffentlichte, war die erste Reaktion der CDU: „Das ist doch kein Journalismus.“ Und so kam es für die CDU dann auch. Nein, es braucht keinen Journalismus, um Wirkung zu erzielen. Gerade junge Publisher suchen sich ihre Wege, um zu publizieren, sorry, zu senden. Plattformen wie Substack in den USA oder Steady in Deutschland bieten Platz für einen Creator Journalismus. Für diesen sind die Zugangshürden gefallen. Auch wenn, das muss man dazu sagen, nicht alle davon leben können, gibt es jetzt die Möglichkeit, sein eigener Verleger, sein eigener Publisher zu werden.
Gefühlte Gründe: Die Gen Z konsumiert News über videobasierte Social-Media-Kanäle. Da kann man als junger Mensch schon mal an der Innovationskraft der Organisationsbranche aus der „alten Welt“ zweifeln. Wir freuen uns über den Erfolg unserer Newsletter. Und die Gen Z fragt: E-Mail? Was ist das? Nur mal so.
Gesellschaftliche Gründe: Gut, und dann gibt es noch die Konfrontation mit Hate Speech, Fake News und, ja, Gewalt gegen Journalist*innen. In Deutschland. Das macht’s nicht attraktiver.
2. Ich bin der/die Bewerber*in – nicht die Bewerber*innen!
Ich glaube, dass es einen 180-Grad-Dreher in der Perspektive braucht, wie wir im Journalismus heute rekrutieren. Im „Run for Talents“ sollte ich mich als Arbeitgeber bei Menschen, die ich haben will, bewerben. Ich habe schon von Bewerber*innen gehört, die man so hingesetzt hat zum Gespräch, dass sie durchs Fenster direkt in die Sonne blickten, nur um zu testen, ob sie selbstbewusst genug sind, die Situation anzusprechen. „Kann ich mich bitte woanders hinsetzen? Mich blendet!“ Was für ein Unsinn.
Aber jetzt zum Acht-Fragen-Beweber*innen-Test. Wenn Sie diese Fragen sofort beantworten können, müssen Sie den Fachkräftemangel in Ihrem Haus nicht fürchten:
Gehalt: Zahlen Sie in Ihrem Unternehmen denn nach Tarif?
Vereinbarkeit I: In welchem Zeitraum halten Sie Konferenzen ab? (Halten Sie überhaupt noch Konferenzen ab?)
Vereinbarkeit II: Was halten Sie von Jobsharing – zum Beispiel in der Chefredaktion?
Nachhaltigkeit: Ist Ihr Unternehmen CO2-neutral?
Soziales: Wie divers, interdisziplinär und agil arbeiten Sie?
Work-Life-Balance: Reicht es, wenn ich nur an einem Tag in die Redaktion komme?
Arbeitszeit: Wie sieht Ihr Gleitzeit-Korridor aus? 10 bis 15 Uhr?
Weiterbildung und Netzwerk: Sind Sie Förderpartner der Hamburg Media School?
Und? Alles gut? Kommen wir zum nächsten Punkt.
3. Und wie komme ich da bloß wieder raus!?! Mit vier Faktoren.
Ach, ich bin auch nicht der Lösungsonkel vom Dienst. Dazu sind die Situationen der Unternehmen unterschiedlich, was die finanziellen Möglichkeiten angeht, was den Standort angeht etc. Ich kann nur sagen, was Wahrscheinlichkeiten erhöht, an Talente ranzukommen und benenne – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – vier Faktoren:
Der Mission-Faktor: Wann haben Sie das letzte Mal solche Sätze gesagt? (Oder gehört?) Wir an der HMS sagen immer: „Nie war der Journalismus so klug, vielfältig, hintergründig und bunt wie heute.“ Das glaube ich wirklich. Sie wollen’s eine Nummer kleiner? Dann vielleicht so: „Nie waren die Möglichkeiten für Journalismus so gut wie heute.“ Doch die zentrale Aussage scheint mir: „Nie war das Publikum uns so nah wie heute.“ Klar, wir müssen auch und gerade im Digitalen um sie kämpfen. Aber wir tun das für einen immer besseren Journalismus, von immer besseren Journalist*innen!
Der Mut-Faktor: Die Prämisse des Masterstudiengangs Digitaler Journalismus, die sich aus den Mission-Statements ergibt, ist Folgende: Begreifen Sie die Digitalisierung als Chance! Leben Sie Innovationen vor und machen Sie sie für alle Mitarbeiter*innen Ihrer Organisation erlebbar. Ja, ich glaube, dass (kluges) Investieren in journalistische Kreativität auch wieder junge Menschen anzieht. Investition! Klingt zumindest besser als „Abrissbirne“.
Der Purpose-Faktor: Was ist der Zweck meines Tuns im Journalismus oder für Organisationen, die mit Journalismus irgendwie Geld verdienen (wollen)? Ich mochte noch nie die Sonntagsreden von der vierten Gewalt im Staat. Selbstbewusstsein statt Sonntagsreden: Da gehe ich mit. Also: Purpose – gut, jetzt habe ich das Wort auch mal in den Mund genommen. Aber Zweck (oder Sinn) spielt eine zentrale Rolle in den Entscheidungen für (oder gegen) einen Beruf. Und zwar über das publizistische Versprechen hinaus. Was lebe ich als Unternehmen vor? Wie nehme ich meinen gesellschaftlichen Impact wahr? Etwa als Player in einem lokalen Markt? Halte ich Diversität, CO2-Neutralität, permanente Weiterbildung, Vereinbarkeit für meine, aber auch gesellschaftlich erstrebenswerte Ziele?
Das „Ego“-Versprechen: Ja, wir im Journalismus reden immer über Nutzwert. Nutzwert garantiert Digital-Abos! Welchen Nutzen können wir als Arbeitgeber*in denn anbieten? Denn da sind die potentiellen Bewerber*innen ganz egoistisch: Sie fordern lebenslanges Lernen, weil sie wissen, dass in dieser digital rasanten Welt dies der Schlüssel ist, um erfolgreich zu sein.
4. Recruiting und Weiterentwicklung haben das gleiche Ziel: Sie befördern die ganze Organisation.
Permanente Weiterbildung der Mitarbeiter*innen entwickelt die ganze Organisation weiter. Ein Baustein ist das Recruiting von neuen Mitarbeiter*innen, die die Organisation herausfordert. Doch wenn sie mal da sind, wie lasse ich sie dann nicht mehr los? Es gibt zwei gute, klassische Mittel, die beide rein numerisch begrenzt sind: Geld und Karriere. Man kann Mitarbeiter*innen mehr Geld geben. Man kann Mitarbeiter*innen in neue Positionen hieven. Was passiert, wenn diese aber begrenzt sind? Wenn ich nicht noch einen „Head of Head“ schaffen kann? Dann habe ich die attraktive Möglichkeit der Weiterbildung als Incentive für Angestellte.
5. Gehe neue Wege im Recruiting!
Bei der Diskussion mit verschiedenen Vertreter*innen aus den Verlagen wurde der Eindruck geteilt, dass es schwieriger geworden ist, gut ausgebildete, talentierte, kluge Menschen für den Journalismus zu gewinnen. Es wurden aber auch Ansätze diskutiert, die Bewerbungsprozessen einen ganz anderen Fokus geben. Zwei Antworten auf zwei Fragen will ich hier vorstellen:
Wer macht die Ausschreibung und begleitet den Bewerbungsprozess? In einem Verlag macht es nicht die Chefredaktion, klar, die entscheidet dann. Aber den ganzen Prozess begleiten die Volontär*innen im Haus. Sie verfassen zum Beispiel die Ausschreibungen. Sind in ihrer Altersgruppe besser vernetzt und haben vielleicht noch eher Zugriff auf Absolvent*innen ihrer Universität. Das ergibt total viel Sinn, weil sie die (An-)Sprache vermutlich besser treffen für ein Publikum, das ihnen entspricht. Gute Idee!
Wie spreche ich ganz andere Gruppen an und werde gleichzeitig divers?
Ja, man hat die Vorstellung: Abitur, Studium, Volontariat. Übernahme, vielleicht. Ein Verlag stellte vor, dass er sich auch für Volontär*innen älter als 40 Jahre, Quereinsteiger*innen also, geöffnet hat. Dadurch wird die Redaktion diverser, weil sie Menschen gewinnt, die andere Lebenserfahrungen gemacht haben abseits der Journalismus-Bubble. Die andere berufliche Vorerfahrung macht sie gleichzeitig zu Expert*innen in ihrem Thema – also auch ein inhaltlicher Zugewinn für die Redaktion. Gute Idee!
Es ist wichtig, hier seinen Weg zu finden. So wird man wieder attraktiv für Nachwuchstalente. Denn die wissen, was sie wollen.