Von Anfang an meines Studiums an der HMS stand für mich fest, dass ich gerne ein Trimester im Ausland verbringen möchte. Meine Wahl fiel dabei aus persönlicher Neugier relativ schnell auf Riga, die Hauptstadt Lettlands. Ich hatte bereits einige Zeit in Russland und Zentralasien verbracht, es aber bisher noch nie in das vergleichsweise nahe Baltikum geschafft. Das musste sich einfach ändern!
Die Planung verlief problemlos: Schnell war geklärt, welche Kurse ich besuchen möchte und welche Unterlagen ich dafür benötige. Diese wurden dann fix per Mail zur Lettischen Kulturakademie in Riga geschickt. Kurz noch den Flug buchen und bei AirBnB nach einen Zimmer suchen und schon saß ich quasi im Flieger gen Osten.
Zugegeben vor meinem Abflug habe ich mir nicht viele Gedanken gemacht, was mich genau in Riga erwarten würde. Stark beeinflusst durch meine bisherigen Erfahrungen in Osteuropa und Russland und den vielen positiven Berichten von Freunden und Bekannten, die bereits schon einmal in Riga gewesen waren, hatte ich mich innerlich auf ein kleines St. Petersburg eingestellt. Selbstverständlich, kam es ein wenig anders. Denn zu meinem Erstaunen ist Riga bzw. Lettland deutlich europäischer als ich es erwartet hatte.
Die einstige Hansestadt Riga ist mit knapp 700.000 Einwohnern die Metropole des Baltikums. Die Innenstadt wurde zum 800jährigen Gründungsjubiläum im Jahr 2001 aufwendig herausgeputzt. Das Zentrum wird dabei insbesondere von Kirchen und Gildehäusern aus dem Mittelalter sowie einer nicht enden wollenden Menge von Jugendstil-Häusern geprägt. Durchsetzt mit zahlreichen modernen Shops und Kaufhäusern ist dieser Teil der Stadt fest in Touristenhand.
Lettisch hört man im Zentrum daher so gut wie gar nicht. So schön das Zentrum Rigas auch ist, so unerschwinglich sind die Preise dort für Einheimische. Bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von knapp über 1.000 Euro im Monat, können sie sich die Cafés und Shops mit ihren westeuropäischen Preisen schlichtweg nicht leisten.
Für mich beginnt das echte Riga ein paar Straßenzüge weiter außerhalb. Meine Unterkunft liegt etwa 30 Minuten zu Fuß vom Zentrum entfernt. Die Touristenquote ist hier bereits gleich null. Ich wohne in einem alten Jugendstil-Gebäude, das einst mal eine architektonische Perle gewesen sein muss. Das einzige, das heute noch an diese Glanzzeiten erinnert, sind die Art-Nouveau-Fliesen im Hausflur. Der Rest des Gebäudes trägt deutliche Spuren der fünfzigjährigen Sowjetherrschaft.
Nach wie vor ist die Beziehung der Letten zu ihrem einstigen großen Bruder Russland sehr komplex. Das merkt man bereits an der Sprachsituation. Für junge Letten ist es alltäglich lettisch, englisch und russisch zu sprechen. Bei der älteren Generation herrschen klar Lettisch und Russisch vor. Etwa 40 Prozent der lettischen Bevölkerung ist russisch-stämmig und kann meist sogar nur Russisch sprechen. In den Städten liegt das Verhältnis teilweise sogar bei 50:50.
Eine der russischen Letten, die ich kennenlerne, ist meine AirBnB-Gastmutter. Aus meiner subjektiven Erfahrung ist sie durch und durch Russin. Sie spricht vorwiegend russisch, kann aber auch ein wenig lettisch. Doch sie hat einen lettischen Pass und bezeichnet sich selbst als Lettin, viel wichtiger aber noch, als Europäerin. Sie erzählt mir, dass es zwischen Russen und Letten nach wie vor viele Vorbehalte gäbe, die die Gesellschaft spalten. Auch der Umgang mit Russland ist immer wieder ein Thema. Während sich die lettische Jugend relativ gradlinig gen Westen orientiert, hadert die ältere Generation noch immer mit ihrem Schicksal. Insbesondere, dass Lettland nach dem Zerfall der Sowjetunion in der Bedeutungslosigkeit versunken ist, nagt an ihnen.
Die Lettische Kulturakademie (LKA) ist außerhalb des Zentrums, in einem ehemaligen Kloster untergebracht und liegt in einem Viertel namens Moskauer Vorstadt. Da ich mit Bus und Bahn etwa genauso lange zur Akademie brauchen würde wie zu Fuß, entscheide ich mich meist dazu zu gehen. Gerade anfangs ist das zugegebenermaßen ein wenig gewöhnungsbedürftig. Die Moskauer Vorstadt ist ein ehemaliges Arbeiterviertel, dem man den dementsprechenden Charme noch ansieht.
An der LKA besuche ich sowohl Erasmus-, als auch Master-Kurse, die alle eine sehr starke Ausrichtung auf Kultur- und Medienthemen haben. Neben einem Lettisch-Kurs besuche ich daher auch Seminare zur Entwicklung der BBC oder der Gründung von kulturnahen Startups in Lettland. Die Masterkurse sind spezialisierter und befassen sich unter anderem mit Unternehmenskommunikation, Personalmanagement und Digitalen Medien. Während die Erasmus-Kurse wöchentlich stattfinden, handelt es sich bei den Masterkursen um Blockseminare, die meistens von Donnerstag bis Sonntag gehen.
Trotz der Tatsache, dass meine Wochenenden also von vorneherein recht voll mit Unikursen sind, bleibt mir noch genügend Zeit, um mir Lettland und die umliegenden Länder anzuschauen. In Lettland selbst bin ich überwiegend mit dem Zug unterwegs. Innerhalb von einer halben Stunde ist man etwa bereits im hinreißenden Strandort Jurmala angekommen, nur wenig länger dauert es, um zum Naturschutzpark in Sigulda zu gelangen. Darüber hinaus standen Litauen und Estland fest auf meiner Liste. Nach Litauen fahre ich gemeinsam mit ein paar Mädels von der Uni. Zwar nur wenige hundert Kilometer entfernt, herrscht auf der Via Baltica ein striktes Geschwindigkeitsgebot von 90km/h pro Stunde. Aber dafür bleibt einem auch genügend Zeit, sich die unglaublich schöne Landschaft anzuschauen. Um Estland zu erkunden, nehme ich den Bus von Zentralbahnhof in Riga. Die Fahrt nach Tallinn dauert nur vier Stunden.
Rückblickend bin ich glücklich darüber, dass ich die Chance genutzt habe und so viel Zeit im Baltikum verbringen durfte. Wie wohl während jedes Erasmus-Aufenthalts habe ich viele sehr nette Menschen kennengelernt. Zusätzlich konnte ich so aber auch einen Teil Europas mit seinen Menschen, Bräuchen und Eigenheiten kennenlernen, der für mich vorher eher einem weißen Fleck auf der Landkarte glich. Nicht zu sprechen davon, dass auch meine Russisch-Kenntnisse deutlich von meinem Aufenthalt profitiert haben und meine Heizkosten dieses Jahr definitiv günstiger ausfallen werden. Denn im Herbst in Riga zu wohnen, bedeutet auch das Konzept der Zentralheizung kennenzulernen. Genauer gesagt, heißt dass, dass jeder Haushalt darauf wartet, dass die Stadtverwaltung es für kalt genug hält, um die Heizung anzustellen. In meinem Fall hieß da, knapp zwei Wochen in einer Wohnung mit 15°C Durchschnittstemperatur zu wohnen, bis die Heizung endlich funktionierte. Dafür kam mir der deutsche Winter bei meiner Rückkehr aber unglaublich milde vor. Auch dafür: Danke Riga, für die schöne Zeit!