Der bislang größte Scoop in der Corona-Krise ist womöglich dem NDR gelungen. Mit dem Charité-Virologen Christian Drosten hatte der Sender recht früh in der Pandemie einen Experten aufgetan, der so kundig, verständlich und sympathisch über Aerosole, Inkubationszeiten und Antikörper-Tests erzählen konnte, dass ihm schon nach kurzer Zeit halb Deutschland lauschte. Am 26. Februar gab es den ersten Podcast Coronavirus-Update, seitdem hält das Format im NDR reichlich Kolleginnen und Kollegen auf Trab. N-Joy Programmdirektor Norbert Grundei, der Christian Drosten „entdeckt“ hatte, erzählt davon in einem – was auch sonst? – Podcast für das Digital Journalism Fellowship. Christian Drosten jedenfalls wurde zum Star mit allen Risiken und Nebenwirkungen, Liebeserklärungen und Hassmails inklusive. Was nicht nur zu der Frage führt: Braucht der Journalismus Stars? Sondern zu einer weiteren: Braucht der digitale Journalismus sie noch nötiger?
Natürlich haben Promis Redaktionen schon immer gutgetan, und das gilt für beide Seiten: die der Protagonisten und die der Journalisten. Nicht ohne Grund gibt es einen von PR-Abteilungen mühsam und zunehmend restriktiv orchestrierten Wettbewerb um Interviews mit besonders bekannten Gesichtern. Klar: Ein Gespräch mit Menschen, die zur Marke geworden sind, hebt das Profil der eigenen Medienmarke, selbst wenn der Inhalt zuweilen Wünsche offenlässt. Ähnliches gilt für jene Groß-Kommentator_innen, -Moderator_innen oder –Reporter_innen, die nicht nur das Ansehen eines Hauses heben, sondern auch manch einen Nutzer dazu bewegen, ein Abo abzuschließen oder einen Sender einzuschalten. Stars bringen Geld. Dies hat sich im digitalen Journalismus nicht geändert.
Was anders geworden ist, sind die Anforderungen an Redaktionen. Früher fanden ganze Generationen von Journalistinnen und Journalisten in den Beruf, weil sie entweder davon träumten, eine Art Hanns Joachim Friedrichs oder Antonia Rados zu werden, oder weil sie hofften, womöglich irgendwann auch mal eine Tina Turner, Angela Merkel oder einen Oliver Kahn interviewen zu dürfen. Auch früher ist das vielen nicht gelungen. Aber immerhin konnten sie vielleicht mit dem örtlichen Bürgermeister, der Landesmeisterin im Biathlon oder dem Regisseur des Stadttheaters interessante Gespräche führen.
Im digitalen Journalismus hingegen gibt es unendlich viele wichtige Rollen und Aufgaben, die wenig Potenzial dazu haben, einen in Star-Nähe zu bringen oder gar selbst zum Star zu machen. Gesucht werden deutlich mehr Funnel-Manager_innen, Suchmaschinen-Optimierer_innen, Community-Manager_innen oder Produktentwickler_innen. Wer kluge Instagram-Formate entwickeln kann oder sich ein wenig mit Software auskennt und die Automatisierung von Redaktionsaufgaben vorantreiben kann, wird ganz sicher sehnsüchtiger erwartet als noch jemand, der den Nahost-Konflikt zu kommentieren weiß. Die Journalistinnen und Journalisten von morgen müssen sich als erstes als Dienstleister verstehen (was manch einem Journalisten von gestern auch nicht geschadet hätte). Das aber erfordert ein vollkommen anderes Bewerber_innen-Profil. Die Ausbildung von Journalistinnen und Journalisten hat sich noch nicht überall darauf eingestellt.
Und was ist mit den Stars? Im digitalen Journalismus können sie Gewinnbringer sein mit ihrer Expertise, ihrem Stil, ihrer Strahlkraft und Persönlichkeit. Um Expert_innen mit vielen Followern lassen sich wunderbar Produkte bauen: Newsletter, Podcasts, Service-Angebote, Bühnen-Auftritte, in der Zeit vor Corona sogar Lesereisen. Stars binden Nutzer. Solange man ihnen Zeit dafür lässt, ihre Expertise zu entwickeln, kann das gut funktionieren.
Dafür müssen sie allerdings noch nicht einmal Journalisten sein. Dass der YouTuber Rezo in diesem Jahr einen Nannen-Preis gewonnen hat, steht als Sinnbild für diese Entwicklung. Nicht allen in der Branche hat das gefallen, ein Kollege kommentierte die Empörung der Platzhirsche auf Meedia mit den Worten, dies zeige „ein Grundproblem des alten Journalismus“. In diesem alten Journalismus blieb man gerne unter sich. Aus Konkurrenz, Neid und Missgunst wurde so manch ein Star geboren, manch anderer aus dem Rennen geworfen. Juan Moreno beschreibt diese Welt in seinem Buch „Tausend Zeilen Lüge“ zum Fall Claas Relotius.
Auch im neuen Journalismus ist Platz für Stars. Aber Branchenkrise und Vertrauensdebatte haben die Demut zurückgebracht, die Corona-Krise mit ihrer Unsicherheit den Respekt vor der Aufgabe. Es ist die Zeit der kleinen Erkenntnisse, nicht die der großen Worte. Und vor allem geht es um den Dienst am Publikum. Der Star darf dann ruhig auch mal ein Virologe sein.
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