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DJF-Kolumne: Aufpasser von nebenan: Lokaljournalismus braucht eine digitale Zukunft.

Alexandra Borchardt farbe

Die Hackordnung im Journalismus war über die längste Zeit klar: Man begann vielleicht im Lokalen, weil sich da schnell viel recherchieren, aufdecken, aufschreiben und gestalten ließ. Aber wer in den Augen der Kolleg_innen etwas gelten wollte, musste irgendwann den Sprung in die nationale Berichterstattung schaffen – ob bei Zeitungshäusern, im Radio oder Fernsehen spielte keine Rolle. Die Metriken, mit denen Prestige und Gehälter stiegen, hießen Sichtbarkeit oder Reichweite. Das hat sich nicht grundlegend geändert, was die Binnensicht angeht. Aber mit Blick auf den Journalismus als vierte Gewalt und Säule der Demokratie sieht die Sache ganz anders aus. Da heißt die wichtigste Metrik Vertrauen. Und was das angeht, schneidet der Lokaljournalismus in so gut wie allen Umfragen am besten ab.

Das war auch schon vor der Corona-Krise so. Ob das die Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen ist, amerikanische Umfragen der Marktforscher von Pew Research oder der Digital News Report des Reuters Institutes in Oxford, Bürger_innen trauen ihren lokalen Zeitungen und Fernsehstationen mehr als den überregionalen Medieninstitutionen. Nur öffentlich-rechtlichen Sendern, die im Lokalen meist auch recht präsent sind, geben sie bessere Noten. Und was den Wert für die Demokratie angeht, ist der Zusammenhang zwischen gutem Lokaljournalismus und bürgerlichem Engagement eindeutig. Bürger gehen häufiger wählen, kandidieren öfter für politische Ämter, Gemeindefinanzen sind gesünder und die Korruption ist dort niedriger, wo Journalisten den Institutionen vor Ort in die Bücher schauen.[1]

Dass sich so etwas überhaupt belegen lässt, hat einen traurigen Grund: Vor allem in den USA, wo der Kapitalismus ein Stück gnadenloser arbeitet als hierzulande, gibt es bereits weit über tausend Orte und sogar Kleinstädte, in denen keine Lokalredaktionen mehr an der Aufklärung der Bürger_innen arbeiten. Medienwissenschaftler dokumentieren sie als News Deserts. Und man kann die Daten solcher Nachrichtenwüsten gut mit denen jener Orte vergleichen, in denen Journalist_innen den Mächtigen noch auf die Finger schauen und Debatten von örtlichem Interesse initiieren und abbilden.

Wer wissen möchte, was dem Lokaljournalismus womöglich auch hierzulande bevorsteht, dem sei die Lektüre von Margaret Sullivans neuem Buch „Ghosting the News“ ans Herz gelegt.[2] Sullivan ist Medienkorrespondentin der Washington Post, davor hatte sie als Public Editor die Interessen der Leser_innen der New York Times
vertreten. Und davor wirkte sie 13 Jahre lang als Chefredakteurin der Buffalo News, der größten Regionalzeitung im US-Bundesstaat New York außerhalb von New York City. Heute sei die Redaktion dort nur noch halb so groß wie zu ihrer Zeit, schreibt sie, und damit schneide die Buffalo News sogar recht gut ab. Unter dem Druck von Investoren hätten die Redaktionen amerikanischer Zeitungen zwischen 2008 und 2017 schon 45 Prozent der Stellen gestrichen, danach sei der Kahlschlag noch massiver vorangetrieben worden. Zwischen 2004 und 2015 seien 1800 amerikanische Zeitungen komplett vom Markt verschwunden. Und in diesem Jahr hat sogar Groß-Investor Warren Buffett aufgegeben. Lokalzeitungen würden verschwinden, hatte er 2019 in einem Interview prophezeit.

Man merkt Sullivan an, wie sehr sie darum ringt, Perspektiven für den Lokaljournalismus zu entwickeln, und wie wenige Möglichkeiten sie dennoch ausfindig macht. Denn solche Projekte wie das von Alice Dreger in East Lansing im Staat Michigan hören sich ehrenwert, aber nicht nach gesundem Geschäftsmodell an: Dreger hat ein Team von 140 Leuten zusammengestellt, die sich im Nebenberuf mit dem Wohlergehen der Region beschäftigen. Es sind vor allem Studierende, Rentner und andere Freiwillige, die das Zusammentragen, was in der Gemeinde wichtig ist – für 50 Dollar Lohn pro Artikel. Das ist Journalismus als Passion, nicht als Beruf.

Dabei ist Lokaljournalismus für die Bürger wichtiger denn je. Überregionale News finden sie schließlich im Internet überall, wer des Englischen mächtig ist, kann sich über verschiedenste Quellen weltweit auf dem Laufenden halten. Die Branchengrößen wie die New York Times, die Washington Post oder der Guardian greifen das globale Bildungs-Publikum ab. Aber wie das Verkehrskonzept für die eigene Region ausschaut, was hinter den Türen des Rathauses geschieht, und was den Ort sonst noch bewegt, darauf hat Google selten Antworten.

Lokalzeitungen haben sie leider auch nicht immer. Man sollte hier nichts verklären, Lokaljournalismus war nicht immer und überall investigativ und unabhängig. So manch ein Blatt vermischte redaktionelle Inhalte und Werbung, berichtete allzu wohlwollend über die örtliche Prominenz, schrieb die Spalten mit nutzlosem oder unverständlichen Stoff aus dem Gemeinderat voll, nur weil sich dort ein Reporter den Abend um die Ohren geschlagen hatte und füllte Seiten über Seiten mit mittelprächtigen Fotos, weil die Budgets für Recherchen nicht reichten.

Die Digitalisierung kann helfen. Nicht nur, weil das Publizieren technisch einfacher und günstiger wird. Die Denke ist eine neue. Wer möchte, dass Abonnenten für ein Produkt bezahlen, muss sich mehr als früher mit ihren Interessen und Bedürfnissen beschäftigen, Stichwort „Audience first“. Nur wer sein Publikum ernst nimmt, erweist ihm eine echte Dienstleistung, auf die er oder sie nicht verzichten möchte – und für die er/sie dann auch zu zahlen bereit ist. Das können ausführliche Recherchen sein, aber auch datenjournalistische Angebote, die sich mit künstlicher Intelligenz künftig billiger und schneller erstellen lassen werden. Über Geotags haben lokale Anzeigenkunden einen zielgenaueren Zugang zu ihrem Publikum. Und Redaktionen können das Wissen ihrer Leser_innen über digitale Kanäle besser anzapfen und Kommunikation initiieren.

Das alles löst das Finanzierungsproblem noch nicht gänzlich. In den meisten Fällen werden potente Geldgeber nötig sein, denen das Schicksal ihrer Gemeinde am Herzen liegt. Aber auch auf der Suche nach Investoren gilt: Ein starkes journalistisches Produkt ist immer ein gutes Argument.

[1] Siehe Alexandra Borchardt, „Mehr Wahrheit wagen – Warum die Demokratie einen starken Journalismus braucht“, Dudenverlag 2020.
[2] Margaret Sullivan„Ghosting the News – Local Journalism and the Crisis of American Democracy“, Columbia University Press 2020