Kürzlich sind die alte und die neue Welt des Journalismus ordentlich aufeinandergeprallt. Natürlich lassen sich beide nicht so scharf trennen, aber wenn einer, der am Zusammenstoß Beteiligten, Bob Woodward heißt, darf man das wohl so beschreiben. Woodward ist am bekanntesten als Teil des Journalisten-Gespanns Woodward und Bernstein, das einst den Watergate-Skandal enthüllte. In seinem gerade erschienenen Buch mit dem Titel „Rage“ nimmt er sich den amerikanischen Präsidenten vor. 18 Interviews hat er dafür mit Donald Trump geführt, und in einem davon hatte der ihm erzählt, wie gefährlich das neue Coronavirus sei. Pikantes Detail: Das war am 7. Februar. Schon damals war das kaum exklusiver Stoff, könnte man sagen. Allerdings hatte Trump die Gefahr gleichzeitig öffentlich heruntergespielt. Deshalb sieht Woodward nun schlecht aus: Hätte der die Information aus moralischer Verantwortung heraus nicht gleich publizieren müssen, statt auf die Buchveröffentlichung im September zu warten?
Genau darüber ist in der Medien-Szene und darüber hinaus ein Streit ausgebrochen. Woodward habe nur seine Auflage steigern wollen, sagen die einen. Er habe die Sache erst einmal sauber recherchieren wollen, sagt Woodward. Und dann gibt es die, die Woodward ohnehin für überschätzt halten. Dieser leide unter einem Mangel an moralischer Neugier, schreibt Alex Nazaryan. Der Autor ist ebenfalls in der Washingtoner Journalisten-Szene unterwegs, für die Los Angeles Times hat er mit spürbarer Empörung nicht nur „Rage“ sondern gleich Woodwards gesamtes Werk verrissen.
Da mag es offene Rechnungen gegeben haben. Aber die Frage, die dahinter liegt, ist brisant. Wem gegenüber sind Journalist*innen verantwortlich, wenn sie bei Recherchen etwas erfahren, dessen zügige Veröffentlichung den Lauf der Dinge zum Guten beeinflussen könnte: ihrem Verlag, der von der Exklusivität profitiert und deshalb mehr am Einschlag eines Scoop-Kometen als an einer Vielzahl von Nachrichten-Schnuppen interessiert ist? Oder der Öffentlichkeit, die ein Interesse daran haben muss, dass Missstände so schnell wie möglich publik werden? Die Frage lässt sich nur von Fall zu Fall beantworten. Aber das Missfallen im Fall Woodward hat auch mit einem Generationen-Konflikt im Journalismus zu tun.
Die alten Dickschiffe der Branche wie die Washington Post, New York Times oder in Deutschland Der Spiegel und natürlich die Buchverlage leben vom dicken Scoop oder eben vom Bestseller. Er ist ihr Geschäftsmodell. Schneller, exklusiver, einfach besser zu sein als die Konkurrenz wirkt als Treibstoff, die großen Enthüllungen prägen ihr Selbstverständnis. Dahinter steckt nicht nur die Gier nach Aufmerksamkeit, Ruhm und Ehre. Die Ethik dahinter wird auch geprägt von der Denke: Erst wenn es richtig laut knallt, hört jeder den Schuss. Es muss eine Entrüstungs-Schwelle überschritten werden, um Akteure wie zum Beispiel Gesetzgeber oder Unternehmen dazu zu bewegen, etwas zu verändern. Gleichzeitig müssen alle Recherchen gerade bei komplexen Themen juristisch wasserdicht sein. Viele Veröffentlichungen, die erwartbar Ärger nach sich ziehen, werden von der Sorge begleitet, mächtige Objekte der Berichterstattung könnten ein Medienhaus in Grund und Boden klagen. All diese Erwägungen prägen Überlegungen dazu, wie schnell man bestimmte Dinge ans Licht zerren muss.
Die jüngere Generation von Journalist*innen muss sich mit den juristischen Fallstricken ebenso beschäftigen wie ihre Vorgänger. Aber die Idee, dass das Wohl des Medienhauses über allem steht, passt vielen nicht mehr in einer Zeit, in der Kollaborationen mit anderen, Beteiligung der Leser/User*innen an Recherchen und persönliche Verantwortung für den publizistischen Auftritt stärker ins Zentrum rücken. Im digitalen „Audience first“ sieht man sich mehr als Partner seines Publikums denn als Teil einer Operation, in der gilt: „Ego first“. In Abwandlung des Claims der Süddeutschen Zeitung, die sich neuerdings mit dem Slogan „Mut entscheidet“ schmückt, könnte man den Journalismus neueren Typs auch so beschreiben: „Demut entscheidet“.
Dazu passt es überhaupt nicht, der Öffentlichkeit um des schönen Scoops willen relevante Informationen vorzuenthalten. Nun mag man im Fall Woodward argumentieren, es hätte rein gar nichts geändert, Trumps Einschätzung zum Virus früher zu publizieren. Die Bürger+innen haben längst gelernt, auf das gesprochene Wort des Präsidenten nicht allzu viel zu geben. Aber die von Woodward so verschnupfte Reaktion erstaunt nun doch. Womöglich hat sie mit seiner Verankerung im Washingtoner Establishment zu tun. Politikjournalist*innen interessieren sich häufig eher für Macht als für das, was Macht anrichtet. Anders gesagt: „den Präsidenten zu Fall bringen“ steht auf Woodwards Prioritäten-Liste vielleicht höher als „Leben retten“ – wobei man in dem Fall argumentieren könnte, dass das eine mit dem anderen verknüpft ist.
Was die Sache lehrt: Journalist*innen täten gut daran, sich mit den Folgen ihres Tuns stärker auseinanderzusetzen. Es gibt ihn schließlich immer wieder, den Journalismus, der im Dienste des Scoops und der Schlagzeile gnadenlos Verletzlichkeiten ausbeutet. Die jüngste Kontroverse um die Veröffentlichung von WhatsApp-Nachrichten eines Kindes in der Bild-Zeitung, das sich nach dem Mord an seinen Geschwistern in höchster Not einem Freund anvertraut hatte, ist ein trauriges Beispiel dafür. In dem Fall hat sogar Springer-Konzernchef Mathias Döpfner Fehler eingeräumt.
Aber auch in weniger drastischen Fällen denken Journalist*innen häufig zu wenig darüber nach, was es mit Menschen macht, wenn sie plötzlich Objekte der Berichterstattung werden. Die Kommunikationswissenschaftlerin Ruth Palmer hat ein aufschlussreiches Buch darüber geschrieben: „Becoming the News – How ordinary people respond to the media spotlight“.
Auch das ist klar: Reporter*innen sind keine Sozialarbeiter*innen. Ethisch können sie sich trotzdem verhalten. Wie dies gehen kann, haben Jodi Kantor und Megan Twohey in ihrem Buch „She said“ dokumentiert. Die Autorinnen beschreiben in diesem Lehrstück investigativer Recherche, wie sie den Skandal um Harvey Weinstein aufgedeckt und die MeToo-Debatte behandelt haben. Besonders interessant daran sind die Diskussionsprozesse innerhalb der New York Times: Wie Investigativ-Chefin Rebecca Corbett stets mahnte, mehr Fakten zu sammeln statt Aussagen – zum Beispiel Verträge mit Verschwiegenheitsklauseln. Wie viel Material die Reporter*innen zusammentragen mussten, bis endlich die Entscheidung fiel: jetzt wird veröffentlicht. Und wie sie mit ihren Quellen kommuniziert hatten, transparent, klar, sie ernst nehmend. Auch bei Weinstein war der Antrieb der Scoop. Aber bis zum Schluss ging es auch um die Frauen.
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