Die Start-up-Szene Israels ist weltbekannt für ihre Innovationen, Inspirationen und Ideen. Was steckt hinter dem Erfolgsrezept dieser viel beschriebenen Start-up-Nation Israel, die sich in wenigen Jahrzehnten erfolgreich vom Agrar-Tech-Land zum High-Tech-Land entwickelte? Studierende des Masterstudiengangs Digital Journalism begaben sich erneut auf einen International Field Trip im Frühling. Es war bereits die zweite Reise der Hamburg Media School nach Israel. Mitarbeiterin Marina Friedt notierte ihre Eindrücke und fand diese Leitmotive besonders inspirierend.
In der Start-up-Nation Israel – Innovationen auf der Spur
Kurze, spontane Wege: „We are a community – wir sind eine Gemeinschaft“
Ein Büro in einem der renovierungsbedürftigen Häuser am Anfang des einst so prachtvollen Rothschild-Boulevards in Tel Aviv, der Eingang ist Nummer 6. Schon im Treppenhaus ist es hip, wie man es weltweit von Wework- oder Accelerator-Locations kennt. An der Wand klebt ein Schild: „Wenn du nicht rechts gehen kannst, geh‘ links.“ Das passt hier.
Wir treffen Eliran Lasar, CPO des Start-ups Airpush. Wie alle Israelis ging er jung zur Armee, um seinen Militärdienst zu leisten. Hier lernen sie, immer wieder aufzustehen, sich nicht unterbuttern zu lassen – nach dem Motto „Fehler machen stark“. Nach vielen Erfahrungen mit eigenen Start-ups und unter anderem beim Next Media Accelerator in Hamburg arbeitet Lasar nach dem Verkauf von PushApps mit und für Airpush hier. Mit acht Millionen Einwohnern ist Israel der perfekte Testmarkt für die Start-up-Szene, für die es gilt, sich immer wieder neu zu erfinden. Das Erfolgsrezept lautet: kurze, spontane Wege. „We are a community – wir sind eine Gemeinschaft“. Und noch eine Weisheit klebt an der Ausgangstür: „Every Exit is an Entry somewhere else.“
Hauptsache interdisziplinär, divers mit schnellen Entscheidungen
In einem der von deutschen Einwanderern gebauten Häusern im Sarona-Park präsentieren uns zwei deutschsprachige Mitarbeiterinnen ein Video von Prof. Dan Ariely. Darin bringt der Konsumentenforscher auf den Punkt, was die Versicherungsbranche ausmacht: „Das derzeit existierende System bringt das Schlechteste in den Leuten zum Vorschein.“
Um dem entgegenzuwirken, unterstützte der US-amerikanisch-israelische Psychologe und Hochschullehrer 2016 die Gründung von Lemonade. Das Unternehmen will nach ethischen Grundwerten den Versicherungsmarkt aufrütteln und verspricht den Abschluss einer Hausratversicherung in 90 Sekunden und, dass Überschüsse an gemeinnützige Organisationen (NGOs) gespendet werden. Das ziehe besonders bei den Millennials: Denn wenn ein Versicherungsnehmer einen Betrug ausübe, dann schädige er damit die Gemeinschaft und vermindere die Auszahlung an eine NGO. Aktuell existiert das Angebot nur in den USA, bald soll es nach Europa expandiert werden.
Man versteht sich als Tech-Unternehmen, das Versicherungen anbietet und nutzt die neuesten Technologien: Bots und KI, kein Papier. Kaum einer der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat Erfahrungen im Versicherungswesen. Ganz im Gegenteil: Prädestiniert sind Teams, deren Teilnehmer sich aus vollkommen fremden Berufen zusammenfinden – interdisziplinär, divers.
Weitere Merkmale, die für Innovationskraft sorgen: Die Teams arbeiten in kleinen Gruppeneinheiten mit Slack – so erlebt das Produkt eine Anpassung, die das Angebot jeweils spezialisiert auf die verschiedenen Länder weiterentwickeln. Die ziel- und ergebnisorientierte Prozessphase läuft maximal ein Vierteljahr, und dann wird nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip weitergeschaut, was funktioniert und was nicht. Das ermöglicht schnelle Entscheidungen.
„Going global from day one – denke gleich global.“
Der Gründer und CEO von IdealityRoads, Oren Gershtein, empfängt uns in einem der hippen Wework Tel Avivs. Seine Liste von Misserfolgen sei länger als die Liste von Erfolgen, wie er stolz einräumt. Aber hier gilt: „Failing is part of the game – Versagen ist Teil des Spiels“.
In 1984 herrschte in Israel eine extrem hohe Inflationsrate. Heute ist es die Nation mit dem höchsten Forschungsetat. Das Investitionskapital ist doppelt so hoch wie in den USA. „Früher waren wir bekannt für den Orangenexport, jetzt exportieren wir das Know-how, wie Orangen wachsen. Das ist profitabler, als selbst auf unserer kleinen Fläche Orangen anzubauen.“ Zudem: „Wissen ist das Gold dieser Zeit und es gilt, schnell große Sprünge zu machen, denn High-Tech-Ökosysteme erreichen ihre kritische Masse in zwei oder drei Jahren und nicht in fünf, zehn oder 15 Jahren“, erklärt Gersthein. Durch die finanzielle Krise in den 1980er Jahren sei Israel nur gewachsen: „Das Geheimnis der israelischen Wirtschaft ist die kritische Masse und das Ökosystem“. Die Strategie lautet: „Going global from day one – denke gleich global.“
Das besondere System in Israel: In der Anlaufphase werden Start-ups zu 85 Prozent durch die Regierung unterstützt, indem sie jedes externe Investment monetär spiegelt, um so andere zu motivieren, mehr zu investieren. Das kurbelt die Investitionslandschaft enorm an. Wenn eines von zehn Projekten durchgestartet ist, hat es sich gelohnt. Es gilt: „Try until you succeed – versuche es so lange, bis du erfolgreich bist!“
Zudem gehe es um Teamwork wie im Motorsport, denn ein Rennwagenfahrer sei nichts ohne sein Team, das schnell genug die Reifen wechselt. Das System in Israel sei nicht kopierbar, aber die Erfahrung um das Start-up-Wunder ist bei geeigneten Rahmenbedingungen exportierter. Derzeit berät Gershtein Start-ups in der argentinischen Provinz Santa Fe und in Neuseeland.
Auf die Frage, welchen Standort er spannend für ein umfassendes Beratungsprojekt zur Digitalisierung und für seine Tätigkeiten fände, antwortet Gershtein: „Eine kleine Community – wie Hamburg. Denn: Ein Rennboot ist wendiger als ein Dickschiff“ und der Entwicklungsstand der Universität sei auch wichtig.
Integration von Minderheiten – lasst uns mehr Netzwerken.
In der loungigen Atmosphäre des Wework mit den „Do-whatever-you-love“-gebrandeten Tassen treffen wir einen weiteren Gesprächspartner: Ron Aviv war Anwalt und ist jetzt Geschäftsführer bei The Hybrid, dem Accelerator der 8200-Alumni-Assoziation. Seine spezielle Aufgabe lautet, arabische Entrepreneurships in High-Tech zu fördern. Die arabische Bevölkerung macht immerhin 25 Prozent der israelischen Bevölkerung aus. Der Hauptgrund für deren gesellschaftliche Benachteiligung liege unter anderem laut Aviv daran, dass sie vom Militärdienst ausgeschlossen sind und damit keinen Zugang zur Technologieeinheit 8200 bekommen. Er möchte die arabische Bevölkerung, immerhin zwei Millionen Menschen, besser integrieren – auch um die Start-up-Nation diverser aufzustellen und damit fit für die Zukunft zu sein.
2016 startete das Hybrid-Projekt nach einem einfachen Prinzip: „Wir geben alles außer Geld und das sechs Monate lang. Super Mentoren, Best-Start-up-Professionals und Investoren“, erklärt Aviv. Heute studierten immerhin ein paar mehr der arabischen Studierenden im Bereich High-Tech, aber viele sprächen immer noch nicht flüssig Englisch, und so sei Netzwerken schwierig.
Warum der Standort Tel Aviv besonders geeignet ist, das weiß Aviv aus Erfahrung: „Start-ups brauchen eine Atmosphäre von Start-up-Umfeld.“ Daher ermöglichen sie den arabischen Start-ups, ihre Büros in Haifa und anderswo zu haben, weil die Leute dort wohnen. So könnten sie auch fokussierter arbeiten. Zum Netzwerken müsse aber ein enger Draht zu Tel Aviv bestehen, weil da die Geschäfte gemacht würden. Deshalb trifft man sich regelmäßig in Tel Aviv – zur gemeinsamen Inspiration für ihre Ideen und zum Networking.
Workaboutwork reduzieren - Mehr Raum für Kreativität schaffen!
Auch Erleuchtung am Arbeitsplatz ist durch Technologie denkbar. Das strebt die globale KollaborationsplattformDropbox zumindest an. Wir werden überrascht mit dem schönsten Blick über ganz Tel Aviv im 44. Stock des Sarona Towers. Hier haben sich viele Tech Companies ihre Büros eingerichtet.
Im Gespräch mit Meir Morgenstern, einem Entrepreneur, der in der berühmten IT-Einheit 8200 diente, und der bereits mehrere Unternehmen erfolgreich an amerikanische Tech-Firmen verkauft hat, erfahren wir, dass Israel auch für Dropbox ein enorm wichtiger Standort als Zentrum für Technik sowie Forschung und Entwicklung darstellt. Als technischer Standortleiter arbeitet er mit seinem Team aus Entwicklern an der Erfüllung der Mission “to create a more enlightened way of working”. Er spricht uns aus der Seele, denn tatsächlich verbringen viele Menschen 60 Prozent ihrer Arbeitszeit mit “Workaboutwork” oder auch “Busy Work” - dem Checken von E-Mails, der endlosen Suche nach Informationen und der Koordination von Projekten (Mc Kinsey). Um für Nutzer mehr Zeit für das Wesentliche und Raum für Kreativität zu schaffen, baut Dropbox neue Produkte wie Paper, einem kollaborativen Arbeitsplatz, in dem Teams alle Arten von Inhalten wie Fotos, Videos, Dateien oder Links zusammenfügen können. Die Kommunikation und Koordination findet direkt um diese Inhalte statt mit zahlreichen Integrationen, damit man nicht mehr hin- und herspringen muss zwischen Tools. Auch die Flut von E-Mails soll sich so reduzieren.
Wir bedanken uns für Kaffee und Cupcakes, machen alle noch ein paar Fotos zur Erinnerung und überlegen auf dem Weg raus, wo wir überall Workaboutwork in unserem Arbeitsalltag sehen und womöglich noch reduzieren könnten.
Ben Bigger, deutscher Journalist in Israel: Israelis sind bekannt für ihr Improvisationstalent
Wir treffen den gebürtigen Hamburger Ben Bigger im Heimatland seines Vaters, um mehr über die Arbeit als freier Journalist zu erfahren. Ben kenne ich aus Hamburg. Der 25-Jährige interessiert sich für den Masterstudiengang Digital Journalism. Bereits am Sonntag begleitete ich ihn und seinen uns chauffierenden Vater nach Jerusalem, um seinen Presseausweis abzuholen. Der Hamburger will über die Parlamentswahlen berichten und über das Airspace-Projekt der Israelis und sich damit eine Nische aufbauen. Wir fuhren bei der Knesset vor und Ben positionierte seine Kamera, um ein paar Schnittbilder einzufangen. Die meisten Menschen, mit denen wir in diesen Tagen sprechen, hoffen auf einen Wandel, sprich die Ablösung des Regierungschefs Netanjahu, dessen Korruptionen in Tausendereinheiten bemessen werden: 1000, 2000 bis 5000 reichen die Klagen und Vorwürfe. Von all dem und davon, dass das typische Mediabias der deutschen Medien sich nur auf negative Ereignisse fokussiert, berichtet uns der junge Journalist im Sarona-Park ganz offen - draußen in der Sonne, umzingelt von den Türmen des Sarona-Towers und den kleinen Häuschen, die einst von deutschen Einwanderern gebaut wurden.
Ben bekennt, dass Israelis für ihr Improvisationstalent bekannt sind und alles halb perfekt machen - er darf das sagen, er ist Halb-Israeli. Später vermutet er, dass deshalb die Mondlandung und auch der Regierungswechsel nicht gelangen. Einen großen Beitrag konnte er in den deutschen Medien nicht absetzen, aber immerhin übernahm die Deutsche Presseagentur (DPA) ein paar Filmaufnahmen als Schnittbilder. Und ich konnte ihm für sein aktuelles Zeitzeugen-Projekt einen weiteren Protagonisten vorstellen: Gady Parnass, den Bruder der in Hamburg bekannten Gerichtsreporterin Peggy Parnass (Stichwort: „Honka-Film“), den wir beide in einem Kibbuz nördlich von Tel Aviv besuchten - ganz analog. Die digitale Kamera blieb bei diesem ersten Kennenlernen verpackt in der Tasche - das improvisierten wir respektvoll mit Blick auf die beiden Geschwister.
Weitere Höhepunkte waren der kulinarische Kochabend mit dem aus Köln stammenden in Israel prominenten Fernsehkoch Tom Franz, bei dem wir viel über die Kultur des Landes lernten, und die vierstündige Stadtführung von Haifa bis nach Tel Aviv. Bei der mit der HMS kooperierenden Herzliya-Universität beeindruckte uns das Team von Michal Olmert und Iddo Wald mit Demonstrationen von humanoiden Technologie-Interaktionen mit den Greeting Machines. Assistentin Netta Ofer zeigte uns die für Kinder konzipierten „Scratch Nodes“, mit denen Zehnjährige spielerisch an das Programmieren herangeführt werden.
Die Reise nach Israel war inspirierend und bedruckend zugleich. Wir lernten viel über Land und Leute und die quirlige Start-up-Szene in Tel Aviv. Israel ist in jedem Fall eine Reise wert.
Weitere Impressionen aus Tel-Aviv gibt es auf Twitter und hier in Bildern: