Wer in der Internetsuche den Begriff Medienethik eingibt, landet schnell bei ihm: Prof. Dr. Christian Schicha vom Institut für Theater- und Medienwissenschaft in Erlangen. Denn einzigartig ist: Christian Schicha hält die einzige Professor für Medienethik an einer deutschen Universität. Wird das Thema zu stiefmütterlich behandelt? Diese und andere Fragen stellen wir dem Medienethiker in einer neuen Ausgabe der JIP-Interviewreihe. Im Gespräch geht es um die derzeit größten Herausforderungen für die Medienbranche, was Medienethik bedeutet und wie sie sich im Redaktionsalltag anwenden lässt. Vorab schon ein Tipp vom Wissenschaftler: eigene Fehler nennen, richtigstellen und weitermachen. Auch Journalist*innen dürfen sich irren.
WEITERBILDUNG / MEDIA INNOVATION PROGRAM
Interview mit Christian Schicha
Herr Schicha, haben Sie als Experte für Medienethik heute mehr zu tun, als noch vor zehn Jahren?
Na ja, die Anfragen nehmen schon deshalb zu, weil ich fast ein Monopol in diesem Bereich habe, also zumindest, was meine offizielle Berufsbezeichnung betrifft. Es gibt viele Kolleg*innen und Initiativen, die sich mit medienethischen Fragen beschäftigen, zum Beispiel das Netzwerk Medienethik. Aber wenn Journalist*innen zum Thema suchen, dann landen sie meistens bei mir, weil ich der einzige Professor für Medienethik an einer deutschen Universität bin.
Hat das Thema in Deutschland keinen großen Stellenwert?
Es ist schon ein Forschungsfeld, das relevant ist. Aber die Medienethik hierzulande wird tatsächlich ein Stück weit stiefmütterlich behandelt, was ich sehr bedauere, weil in anderen Ländern wie den USA durchaus zu beobachten ist, dass Medienethik beispielweise an Hochschulen eine größere Rolle spielt. Auf der anderen Seite ist es mit der Medienethik in Bezug auf die Kritik von Medien gegenüber anderen Medien schwierig. Man sagt ja so schön: „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.“ Medien haben oft eine Hemmung, sich kritisch mit anderen Medien auseinanderzusetzen. Es gibt natürlich Ausnahmen, wie das Medienmagazin „Zapp“. Der SPIEGEL hat sich kritisch mit der BILD-Berichterstattung auseinandergesetzt, einige Zeitungsverleger mit der Rolle von Mathias Döpfner. Aber insgesamt gibt es eine große Solidarität innerhalb der Medienbranche, was natürlich gut ist. Dennoch fehlt es auch an Kritik und Reflexion gegenüber der eigenen Branche. Zentral sind Fragen wie: „Wie darf ich berichten? Wer ist verantwortlich? Was sind die Folgen meines Handelns?“
Könnte die geringe Auseinandersetzung mit dem Thema auch an dem Begriff selbst liegen? Worte wie „Moral“ und „Ethik“ sind sehr abstrakt. Was verstehen Sie unter Medienethik?
Mir ist wichtig klarzustellen, dass es sich bei der Medienethik um angewandte Ethik handelt. Natürlich spielt das normative Gerüst, was eine philosophische Tradition hat, eine große Rolle. Aber ich möchte betonen: Wir haben ein Spannungsfeld zwischen Ideal und Praxis. Wir haben auf der idealen Ebene hohe Ansprüche an den Journalismus. Nun ist die Medienbranche in erster Linie nach dem Marktmodell organisiert. In der Regel müssen Medienmacher*innen Geld verdienen. Der Umsatz orientiert sich u.a. an Klicks, Einschaltquoten, dem Verkauf von Produkten und Werbung. Insofern müssen zu hohe moralische Ansprüche ein Stück weit runtergeschraubt werden, weil Medien in Konkurrenz zu anderen Medien stehen und zahlreichem Sachzwängen unterliegen. Dennoch gibt es selbst im Boulevard-Journalismus Spielräume für eine moralisch angemessene Berichterstattung.
Wo liegen – aus medienethischer Sicht – die größten Herausforderung in der Medienbranche?
Da sind wir ganz schnell im Bereich der Sozialen Medien, die in vielerlei Hinsicht eher unsozial sind. Wenn das Unternehmen, das eine Plattform betreibt, damit Geld verdient, dann ist es auch für die Inhalte verantwortlich. Sofern diese moralisch, aber auch rechtlich bedenklich sind, müssen sie kontrolliert und gegebenenfalls auch gelöscht werden.
Hinzu kommen automatisierte Prozessen, die durch Algorithmen generiert werden.
Wir haben weiterhin den Echokammer-Effekt und Filter-Blasen. Eigene Haltungen werden verstärkt. Propaganda und Fake News im Netz können für Plattformanbieter*innen kommerziell sehr reizvoll sein, da sie Aufmerksamkeit und Anschlussdiskurse generieren. Aufreger, Beschimpfungen und Polemik entsprechen auch im Netz klassischen Nachrichtenfaktoren. Darum geht es schlussendlich nicht nur um die Verantwortung der Berichterstatter*innen, sondern auch um die Verantwortung der Redaktionen und Institutionen der Medienbetriebe sowie um die Selbstkontrolle der Medien.
Wie können die Medien sich besser selbst kontrollieren oder anders gefragt: Wie handeln Journalist*innen medienethisch korrekt?
Es gibt den Presserat, den Werberat, den PR-Rat, die Landesmedienanstalten und eben auch kritische Medien, wie zum Beispiel den BILD-Blog. Der Presserat muss sich aber oft die Kritik gefallen lassen, ein zahnloser Tiger zu sein. Vielleicht bräuchte er mehr Werkzeug, um wirklich einschreiten zu können. Journalist*innen selbst können sich an einigen Kriterien abarbeiten, wie die Einhaltung der Persönlichkeitsrechte oder eine saubere Recherche. Transparenz finde ich auch wichtig. Allerdings sollten wir viel früher ansetzen. Das Schlagwort ist eine Medienkompetenz. Sie sollte schon in der schulischen Ausbildung eine entscheidende Rolle spielen. Dabei geht es u.a. um folgende Fragen: Was ist Qualitätsjournalismus? Was bedeutet Urheberschaft? Was sind journalistische Kriterien einer angemessenen Berichterstattung? Wie recherchiert man? Das sind Grundlagen, die gar nicht so komplex sind und z.T. schon in der Mittelstufe behandelt werden.
Ein Wort was im Zusammenhang mit Medienethik immer öfter genannt wird, ist „Nachhaltigkeit“. Wie sieht nachhaltige Berichterstattung aus?
Ganz grob gesagt, geht es um Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen, aber auch der Dritten Welt und das beginnt tatsächlich beim Ressourcenverbrauch. Jetzt kann man natürlich sagen: „Gut, dass es weniger Zeitung gibt, dann werden weniger Bäume gefällt.“ Man kann aber auch sagen, dass wir online viel Strom verbrauchen. Nachhaltige Berichterstattung müsste sich also auf allen Ebenen Gedanken machen: „Wie kann man ressourcenschonend agieren?“ Außerdem geht es auch um die Berichterstattung zu Themen, wie Umwelt und Klima. Die findet kaum statt, da wir uns zurzeit stark auf die Corona-Pandemie konzentrieren. Deshalb bin ich auch bei der Initiative Nachrichtenaufklärung e.V. dabei, bei der auch Journalist*innen, wie Günter Wallraff, auf Themen aufmerksam machen, die von den Massenmedien vernachlässigt werden. Zukünftig sollte es auch mehr Netzwerke zwischen Journalist*innen und Wissenschaftler*innen geben, um Inhalte richtig wiederzugeben. Die Themen werden komplexer. Umweltjournalist*innen haben daher einen überaus anspruchsvollen Vermittlungsauftrag.
Welche Rolle spielt das Thema Medienethik in deutschen Redaktionen?
Das kann ich nur begrenzt beurteilen. Natürlich treffe ich gelegentlich Kolleg*innen, die sowieso schon sensibilisiert sind und die Rahmenbedingungen haben, gründlich zu recherchieren. Zu nennen sind hier u.a. Formate wie die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG oder die ZEIT. Denen geht es auch wirtschaftlich noch recht gut. Ich habe auch ehemalige Studierende, die bei Boulevard-Medien gelandet sind und nicht so gute Rahmenbedingungen haben. Durch die Förderung von Medienkompetenz in den Bildungsträgern kann man zwar sensibilisieren aber die strukturellen Zwänge sind groß und das kann man nicht wegdiskutieren. Gleichwohl sollten etwa keine ungeprüften Berichte, die auf Gerüchten basieren, publiziert werden. Die Medien sollten sich klar machen, dass sie durch derartige Praktiken ihre Reputation beschädigen und Vertrauen verlieren. Letztendlich brauchen alle Medien gute Nachwuchsjournalist*innen und die fühlen sich sicher wohler, wenn der Ruf ihres Medienhauses positiv ist.
Was geben Sie Journalist*innen zum Schluss mit auf dem Weg?
Ich würde mir wünschen, dass Journalist*innen einfach einmal sagen, wenn sie etwas nicht wissen. Das finde ich besser als so sinnlose Schalten mit der Frage „Was gibt es Neues?“ zu starten. Und dann versucht jemand verklausuliert zu sagen, dass es nichts Neues gibt. Und ich finde es auch gut, wenn man einfach einmal sagt: Man hat sich geirrt, man hat eine falsche Quelle zitiert, Informationen falsch eingeordnet oder der Informant hat nicht die Wahrheit gesagt. Ich glaube, da fällt niemanden ein Zacken aus der Krone, wenn man sich entschuldigt und die Sache im Anschluss richtigstellt. Das machen wir im Privaten doch auch nicht anders.
Das Interview führte Anja Kollruß.