Was beschäftigt Jugendliche? Was ist ihnen wichtig? Diese Fragen sollten sich Journalist*innen nicht selbst, sondern den jungen Menschen direkt stellen, findet Hatice Kahraman. Die Redaktionsleiterin von Salon5 ist täglich mittendrin in der Lebenswelt der 13- bis 18-Jährigen. Salon5 ist die Jugendredaktion des Recherchenetzwerks Correctiv. Ihren Hauptsitz hat die Redaktion in Bottrop. Herzstück ist das Webradio, das 24 Stunden am Tag sendet. Für das Programm produzieren die Jugendlichen eigene Podcasts und übernehmen dabei alles - von der Recherche über den Schnitt bis zum Bewerben auf Social Media. Im JIP:Interview haben wir mit Hatice Kahraman über ihre Zusammenarbeit mit den jungen Menschen gesprochen und wollten von ihr wissen: Wie können Medien diese wichtige Zielgruppe erreichen?
WEITERBILDUNG / MEDIA INNOVATION PROGRAM
Interview mit Hatice Kahraman
Die erste Frage liegt auf der Hand: Wofür steht die „5“ bei Salon5?
Für Artikel 5 des Grundgesetzes – für die Meinungsfreiheit. Wenn man in der Bottroper Innenstadt ist, dann kann man direkt an der Fensterscheibe unserer Redaktion vorbeigehen. Auf der steht groß „Artikel 5“. Uns war das wichtig, das auf die Scheibe zu kleben, damit die Leute stehen bleiben und sich fragen, warum gerade dieser Artikel so wichtig ist – und das tun sie auch. Wir möchten jungen Menschen zeigen, dass sie eine Meinung, Interessen und Lebenswelten haben können und dass sie diese auch aussprechen und deutlich machen können.
Wird jungen Menschen zu wenig zu gehört?
Immer wieder heißt es „Jungen Menschen eine Stimme geben.“ Das würde ich so nicht unterschreiben. Ich glaube, viele Menschen haben schon eine Stimme und sie haben auch eine sehr laute Stimme, sie haben eine Meinung und können Dinge kritisieren. Häufig ist eher das Problem, dass junge Menschen gar nicht wissen, wie oder wo sie ihre Meinung äußern können. Salon5 ist eine Plattform, die jungen Menschen genau das bietet. Durch das journalistische Handwerk, das wir ihnen hier beibringen, lernen sie noch deutlicher zu sagen, was sie bewegt.
Und wie sieht die Arbeit im Salon5 aus?
Salon5 ist im Prinzip ein Webradio, das 24 Stunden spielt. Das Programm besteht aus Musik und Podcasts, wobei die Podcasts von Jugendlichen zwischen 13 und 18 Jahren komplett eigenständig gemacht werden. Man kann sich das so vorstellen: Wenn jemand zu uns kommt, dann zeigen wir ihr oder ihm erst einmal das journalistische Handwerk; also wie man Interviews führt, recherchiert, vertrauenswürdige Quellen oder eigene Themen findet. Häufig kommen die Jugendlichen zu uns und haben Bock etwas zu machen, aber sie wissen überhaupt nicht worüber. Wir helfen ihnen dann, ihre eigene Lebenswelt und Interessen zu entdecken. Wenn sie das ganze Handwerkliche können, produzieren sie ihren eigenen Podcast und machen wirklich von A bis Z alles alleine – vom Schnitt bis zum Bewerben auf Social Media. Unsere Aufgabe ist es, den Jugendlichen die Redaktion zur Verfügung zu stellen, sie zu betreuen und ihnen Feedback zu geben. Das Angebot ist für die Jugendlichen komplett kostenfrei.
Seit Jahren sprechen wir über fehlende Medienkompetenz bei jungen Menschen. Ist das immer noch ein Thema?
Ich glaube, die Frage ist eher: Was verstehen wir unter Medienkompetenz? Die Jugendlichen, die hierhin kommen, sind wirklich richtige Profis, was Social Media angeht. Das beherrschen sie verdammt gut. Es gibt Redaktionskonferenzen, wo ich denke: „Wow, krass!“ 13-Jährige wissen viel mehr, was gut ankommt und welche Themen interessant sind. Das können wir noch von ihnen lernen. Was wir machen, ist ihnen zu zeigen, was Quellen sind, was eine Falschmeldung ist und wie sie richtig recherchieren. Dabei ist uns nicht wichtig, dass sie ellenlange Artikel schreiben oder 60-minütige Interviews führen können. Uns ist wichtig, dass es so einfach wie möglich und Teil ihrer Lebenswelt ist. Deswegen haben wir uns auch für Podcasts entschieden. Da machen die Jugendlichen einfach das Mikrofon an und fangen zu erzählen an. Einen Text zu schreiben dagegen, ist für viele schwierig. Wir möchten sie da abholen, wo sie sind. Deswegen sind wir auch auf Instagram und fangen bald mit TikTok an. Das ist ihre Medienwelt. Das entspricht ihrem Konsumverhalten.
Was sind eure Themen und inwieweit unterscheiden sie sich von den Themen großer Medienformate?
Es sind Themen, die Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren bewegen, und das sind vor allem Themen rund um Schule, Freundschaft, Familie und Identifikation. Also, z.B. „Was fange ich mit meinem Leben an?“ oder es geht auch viel um mentale Gesundheit. Durch Corona ist das ein Thema geworden. Natürlich unterscheiden sie sich von den Themen anderer Medien, weil diese dort oft gar nicht diskutiert werden. Wir haben im März 2020 angefangen – also direkt mit der Pandemie und da hatten wir ganz viele Podcasts, die sich um Schule gedreht haben, wo die Schüler*innen gesagt haben: „Wir können nicht mehr. Uns wird das zu viel. Wir werden nicht beachtet. Uns geht es nicht gut.“ Natürlich wurde irgendwie schon über das Thema gesprochen, nur immer über die Jugendlichen hinweg und nicht mit ihnen. Das, was von ihnen kam, waren teilweise andere Sachen. Wir hatten zwischendurch Schüler*innen hier, die gesagt haben: „Wie soll ich mir die Hände desinfizieren, wenn wir nicht einmal Seifenspender an der Schule haben?“ Oder: „Ich sitze in der Abi-Prüfung vor dem Fenster und muss es die ganze Zeit offenhalten, mir ist aber kalt.“ Wir haben auch andere Themen, zum Beispiel Politik, Umwelt, Klima. Das sind ebenfalls Themen, die junge Menschen interessieren, aber häufig aus einer anderen Perspektive.
Bedeutet eine andere Perspektive für Themen auch eine andere Herangehensweise in eurer Berichterstattung?
Bei der Recherche fragen sich die Jugendlichen zuerst: „Was ist mir wichtig?“ Es geht also mehr darum: Wie sieht ein Jugendlicher die Welt? Was ist einem Jugendlichen wichtig? Zum Beispiel das Thema Armut. Sie können über arme Menschen schreiben, aber es ist etwas ganz anderes, wenn die Jugendlichen selbst arm sind und aus ihrer Lebenswelt heraus berichten. Es ist also meist die Ich-Perspektive, die am Anfang steht und deswegen glaube ich, dass unsere Podcasts etwas Besonderes sind, weil sie sich an eine Zielgruppe richten, die nicht so stark beachtet wird. Die 13- bis 18-Jährigen sind eine relativ schwierige Zielgruppe, weil sie irgendwann in der Pubertät sind. Sie haben viele Interessen und werden gar nicht so in der Medienwelt betrachtet. Aber tatsächlich sind es Sichtweisen, die total wichtig sind. Wie nimmt ein*e Schüler*in zum Beispiel die Schulpolitik wahr? Wir machen auch zu den diesjährigen Landtagswahlen in NRW ganz viel, weil man ab 16 Jahren schon wählen kann. Aber uns geht es auch darum, welche Ängste und Sorgen Jüngere haben, die scheinbar von der Politik gar nicht wahrgenommen werden, weil sie eh nicht wählen können.
Ist das nicht fatal, dass solche Perspektiven auch in den etablierten Medien noch zu wenig vorkommen? Schließlich ist die Gen Z ja so etwas wie eine Blaupause für die Verlage – die zukünftigen Konsument*innen von Medien.
Uns ist aufgefallen, dass es bei den Zeitungen häufig so eine Kinderseite gibt. Von denen fühlen sich Jugendliche aber nicht angesprochen. Sie sind auch gar nicht die Zielgruppe. Auf der anderen Seite sind da YouTube- und Instagram-Formate, die junge Menschen ab 18 Jahren ansprechen, also die schon studieren oder eine Ausbildung anfangen. Aber Jugendliche zwischen 13 und 18 werden tatsächlich fast gar nicht angesprochen. Dabei ist diese Generation total spannend. Irgendwann gehen sie in den Beruf, fangen ein Studium oder eine Ausbildung an. Irgendwann gehen auch sie wählen – und werden dann sehr wichtig sein. Ich glaube, der Grund dafür ist, dass sie so schwer zu erreichen sind. Natürlich bekommen wir Anfragen von Eltern, ob ihre Kinder bei uns mitmachen können, aber die meisten kommen über ihre Freunde zu uns, die hier schon sind. Es ist wichtig, dass man die Dynamik dieser Zielgruppe versteht und auch versteht, dass diese Zielgruppe manchmal unzuverlässig ist. Manchmal kommen die Jugendlichen nicht zu den Meetings oder geben Sachen nicht ab. Diese Zielgruppe tickt einfach anders und man muss arbeiten, wie sie arbeiten.
Wenn du an die Themen der großen Zeitungen und Medienformate hierzulande denkst: Was können Verlage noch von euch lernen?
Ich glaube, vor allem Journalismus von jungen Menschen. Damit meine ich nicht fertige Produkte oder Artikel, sondern wie die Jugendlichen in Ideenfindung und Entwicklung eingebunden werden können. Sobald etwas Fertiges bei den Jugendlichen ankommt, schauen sie es sich nicht mehr an. Wir haben zum Beispiel die Erfahrung gemacht, dass wir die Jugendlichen von Anfang an mit ins Boot holen müssen. Wenn wir merken, dieses Thema ist gar nichts für sie, dann machen wir es auch nicht. Etablierte Medien können von uns lernen, junge Menschen bereits in diesen Prozess der Recherche, der Themenfindung, der Projektidee miteinzubinden und ernst zu nehmen. Wir haben letztes Jahr ein großes Problem mit Instagram gehabt. Unsere Zuschauer*innenzahlen sind ein bisschen heruntergegangen. Da haben wir die Jugendlichen gefragt: „Seid mal ganz ehrlich: Würdet ihr euch das angucken?“ Und da sind dann ganz tolle Sachen bei rumgekommen. Jetzt zeigen wir die Instagram-Stories immer den Jugendlichen vorab bzw. sie werden von ihnen meist erstellt. Es dauert natürlich länger, bis etwas online gestellt werden kann, aber wir glauben, dass die Qualität dadurch viel besser wird. Wir wollen nicht über die Zielgruppe berichten. Wir wollen, dass die Jugendlichen den Content selbst erstellen.
Also schlägst du vor, dass junge Menschen stärker in Redaktionsprozesse eingebunden werden sollen?
Ja, total. Mit jungen Menschen meine ich nicht nur 18- oder 20-Jährige, sondern auch 13-, 14-Jährige, also Schüler*innen, die vielleicht gar nicht in den Journalismus wollen, aber trotzdem einmal an einer Redaktionskonferenz teilnehmen können, um dort gefragt zu werden: „Ist das überhaupt spannend für dich?“ Oder ihnen werden einmal die Redaktionsprozesse gezeigt. Wenn junge Menschen sich ausgeschlossen fühlen, dann schauen sich den Content nicht mehr an. Das Endprodukt ist dann für sie nicht mehr wichtig. Sie müssen also von Anfang an involviert werden.
Wie können junge Menschen in die Redaktionen kommen? Könnte so ein Besuch Teil des Unterrichts sein?
Also, ich glaube tatsächlich, dass Schule eine Möglichkeit ist, aber Schule ist nicht die einzige Lebenswelt junger Menschen. Es ist immer ein Lehrer dabei, der dann häufig die Fragen stellt und nicht die Jugendlichen selbst. Und wer nicht möchte, wird trotzdem mehr oder weniger gezwungen, mitzukommen. Ich finde, man muss raus aus diesem Kontext und junge Menschen da abholen, wo sie in ihrer Freizeit sind; zum Beispiel auf TikTok oder Instagram.
Salon5 gibt es jetzt seit knapp zwei Jahren. Wie geht es weiter mit euch? Wird es Salon5 auch irgendwann außerhalb des Ruhrpotts geben?
Wir haben mit zehn Jugendlichen angefangen. Mittlerweile produzieren knapp 50 Jugendliche regelmäßig bei uns. Manche davon sind schon seit fast zwei Jahren dabei. 2020 haben wir eigentlich mit einer klassischen Lokalredaktion angefangen. Alle Jugendlichen kamen entweder aus Bottrop oder aus der Umgebung. Wir haben mittlerweile eine weitere Redaktion in Essen eröffnet, das ist in der Nähe von Bottrop. 2021 haben wir dann viele Anfragen von außerhalb bekommen. Einige konnten online mitmachen. Wir haben aber gemerkt, dass besonders junge Menschen in diesem Alter eine Begegnungsstätte brauchen. Sie müssen andere Jugendliche vor Ort treffen können, damit sie gemeinsam Themen entwickeln oder recherchieren können. Wir sind gerade dabei, eine Klimaredaktion in Greifswald aufzubauen. Dieses Jahr sollen dann noch weitere Standorte in anderen Bundesländern folgen.
Foto: Ivo Mayr / CORRECTIV
Mehr zu Hatice Kahraman könnt ihr hier nachlesen.