Die Fotojournalistin und DJF-Alumna Jacobia Dahm dokumentiert eine Woche lang für den amerikanischen TV-Sender NBC News mit zwei Kolleginnen die Situation am polnisch-ukrainischen Grenzübergang in der Nähe der Stadt Przemysl. Im Interview schildert sie ihre Eindrücke und Erlebnisse. Die Fotografin aus Berlin berichtet von dramatischen Schicksalen vor allem ukrainischer Frauen, aber auch von sehr hilfsbereiten Polen.
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„Polen sehen es als ihre Aufgabe, den Geflüchteten zu helfen“
Jacobia Dahm, eine Woche am Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine. Das klingt nach einer dramatischen Zeit. Wie hast du die Situation dort erlebt?
Jacobia Dahm: Der Grenzübergang Medyka wirkt eher karg, aber alle NGOs stehen hier Schlange, um zu helfen: mit Zelten, Hilfsmaßnahmen oder Essensausgaben. In der Nähe liegt auch die Stadt Przemyśl, in der US-Präsident Joe Biden vor kurzem gesprochen hat, und von dort aus reisen die geflüchteten Menschen weiter, nach Polen oder in andere europäische Länder. Auch dort haben wir viele Menschen erlebt, Geschichten gehört und von großem Leid erfahren. Es war dennoch toll zu sehen, wie viele Leute aus der ganzen Welt angereist sind und sich dort engagieren. Wir haben mit einem britischen Lokführer gesprochen, der dort hilft, weil er in der Region zuvor öfter Urlaub gemacht hat. Wir haben einen Amerikaner getroffen, der mit seinem 16-jährigen, ukrainischen Adoptivsohn Suppe an die Geflüchteten verteilt. Schotten in Kilts haben wir gesehen. Wäre es nicht so unpassend, könnte man es auch als Zirkus beschreiben, was dort passiert. Aber das Schönste war die Erkenntnis, dass die ganze Welt hilft.
Warum wart ihr vor Ort? Worüber wolltet ihr genau berichten?
Jacobia: Der amerikanische Sender NBC News wollte eigene Bilder vor Ort produzieren und hat uns deswegen als Team dort hingeschickt, eine ukrainisch sprechende Reporterin aus London, eine polnische Übersetzerin und mich als Fotografin. Die Reise war gut vorbereitet, es war in etwa klar, worüber wir berichten. Der Fokus lag auf den Polen: Was denken sie? Was machen sie? Haben sie Angst? Wie geht es ihnen mit den Geflüchteten?
Und was denken die Polen? Wie geht es ihnen mit den über 2,5 Millionen Geflüchteten?
Jacobia: Die Polen sind ganz klar und ruhig. Sie sagen sich: Es ist unsere Aufgabe, zu helfen – das machen wir jetzt so. Ganz anders als 2015 bei den syrischen Geflüchteten. Es liegt wohl daran, dass sich Polen und Ukrainer näher sind, vor allem in den Grenzregionen kennen sie sich. Ich habe immer wieder die „Wir schaffen das“-Mentalität wahrgenommen. Auch wenn sich viele selbstverständlich denken, dass es Probleme geben könnte. Das Gesundheitssystem platzt jetzt schon auseinander, aber dafür – auch in der Hinsicht sind sie ganz klar – ist die Politik verantwortlich und nicht die Bürger. Diese positive Einstellung sieht man in den Schulen. Da die Klassen generell eher kleiner waren, sitzen dort bereits viele ukrainische Kinder und werden unterrichtet. Es gibt generell wenig Berührungsängste, da alle aus einem ähnlichen Kulturkreis kommen.
Wie hast du die ukrainischen Geflüchteten wahrgenommen?
Jacobia: Die Menschen sind im Schock. Es gibt auf der einen Seite einen fußläufigen Grenzübergang und auf der anderen Seite einen Auto-Übergang. Bei Letzterem müssen die Flüchtenden aufgrund der Menge an Menschen teilweise zwei Tage im Auto warten, bis sie die Grenze passieren können. Das ist für viele eine nervliche Zerreißprobe. Gerade mit kleinen Kinder, das haben mir viele berichtet, ist das unmöglich. Wir haben auch eine 18-Jährige getroffen, die über die Grenze kam und nur geweint hat. Ihre Eltern haben sie nach Polen geschickt, um sie zu retten. Der Vater durfte nicht fliehen, die Mutter konnte nicht – also haben sie ihre Tochter alleine auf die Flucht geschickt. Sie sagte mir, dass sie seitdem nur noch weint. Sie war völlig verzweifelt.
Das sind dramatische Geschichten. Wie hast du dich bei der Dokumentation gefühlt?
Jacobia: Ich selbst spreche kein Ukrainisch oder Polnisch, so dass ich nicht alles verstanden habe. Ich wusste immer, worum es in etwa geht, aber diese Sprachbarriere schaffte auch etwas Distanz, was für meine Arbeit gut war. Aber natürlich gab es Situationen, in denen wir zusammen geweint haben. Wir bleiben ja Menschen.
Als Fotografin hälst du die Emotionen der Menschen fest. Wie gut hat das in diesen Situationen funktioniert?
Jacobia: Emotional konnte ich etwas distanzierter agieren, habe mehr beobachtet. Ich bin aber sowieso eine vorsichtige Fotografin. Ich fotografiere niemanden ohne Einverständnis und ich möchte in den Gesprächen kein Störfaktor sein. Deswegen haben wir im Vorfeld abgeklärt, dass ich auch während der Interviews fotografieren darf, ohne dass sich die Menschen komisch fühlen.
Hattest du auf deiner Reise irgendwann einmal Angst?
Jacobia: Nein, nie. Obwohl die Raketeneinschläge kaum 50 Kilometer entfernt waren. Ich wollte eigentlich noch etwas weiter in die Ukraine hinein, aber wir haben uns als Team dann auf die geplanten Geschichten konzentriert. Interessiert hätte mich die Situation in der Ukraine allerdings schon, aber aus reiner Abenteuerlust.
Was bleibt dir vor allem von dieser Dokumentation in Erinnerung?
Jacobia: Es gab viele Schicksale, die mich noch länger begleiten. Aber am Ende sind wir noch spontan mit dem Zug zurück nach Berlin gefahren – und nicht geflogen. Das hätte sich für mich nicht passend angefühlt. Auf dieser Reise haben wir noch einmal viele besondere Eindrücke gewonnen, Menschen getroffen – in dem Zug waren nur vier Männer, sonst ausschließlich Frauen und Kinder. Wir haben mit ihnen über ihre Erlebnisse gesprochen. Es waren intime Situationen, offene Gespräche. Wir wurden auf der 15-stündigen Fahrt viermal verfrachtet – es hieß immer: Der Zug ist überfüllt. War er allerdings gar nicht. Den wirklichen Grund haben wir nicht erfahren. Kontrollen gab es indes auch keine. Eine sehr besondere Reise und Erfahrung. In Erinnerung wird mir aber wahrscheinlich auch eine etwas skurrile Galerie bleiben. Denn viele flüchten mit kleineren Haustieren – da sind kuriose Bilder entstanden.
Warum sind auch solche etwas kuriose Fotostrecken in einer Dokumentation über die Flucht aus einem Kriegsgebiet wichtig?
Jacobia: Das funktioniert natürlich nur, wenn solche Galerien in den größeren Kontext sinnvoll eingebaut werden – sie können nicht alleine oder als großer Aufmacher stehen. Das würde der Situation nicht gerecht. Aber die Haustiere gehören eben auch dazu. Sie sind dort, jeder kann sie sehen. Außerdem habe ich für den US-Sender NBC News gearbeitet. Amerikaner sind nicht gerade dafür bekannt, sich für Ereignisse außerhalb Amerikas zu interessieren. Sollte aber jemand selbst einen Chihuahua haben, dann einen ähnlichen Hund im Arm einer Geflüchteten sehen und sich denken „Das ist ja ein grausames Schicksal der Menschen dort.“ habe ich schon etwas erreicht. Ich möchte mit meinen Bildern und Dokumentationen zum Nachdenken anregen und eine Brücke herstellen. Vielleicht gelingt es so – das wäre natürlich das Schönste.
Links zu den Dokumentationen bei NBC News mit Fotos von Jacobia Dahm:
Multimedia-Reportage bei NBC News über die polnisch-ukrainische Grenze mit Fotos von Jacobia Dahm: https://www.nbcnews.com/specials/ukraine-refugees-germany-poland-journey/index.html
Eindrücke vom Grenzübergang zwischen der Ukraine und Polen: https://www.nbcnews.com/news/world/ukraine-russians-poland-refugees-mourn-war-rcna20227
Instagram-Post zu der Flucht mit Haustieren:
https://www.instagram.com/p/Cb...