In diesen Tagen und Monaten des Krieges mag die eine oder der andere bei sich selbst einen Trend beobachten, der auch die Forschung belegt: Menschen meiden zunehmend Nachrichten. Nachdem der jüngste Digital News Report in der vergangenen Woche einen rasanten Anstieg der „News Avoidance“ gemeldet hatte, legt das dänische Constructive Institute nun mit einer Studie nach. Von den befragten Teilnehmern in Deutschland, Großbritannien und Dänemark gab – mit nationalen Abweichungen – grob jeder Zweite zu Protokoll, Journalismus fokussiere zu sehr auf schlechte Nachrichten und betone Konflikte. Dies mache schlechte Laune und verleite häufig dazu, um das Nachrichtengeschehen einen Bogen zu machen. Die Studie wurde am Mittwoch auf der vierten Global Constructive Conference „Listen Louder“ vorgestellt, die das neue Bonn Institute gemeinsam mit dem Constructive Institute veranstaltet hatte. (Den Stream kann man hier nachhören – mit Ausnahme eines Panels über Klimajournalismus, das wegen eines Stromausfalls passenderweise zum Teil unter freiem Himmel stattfand.)
Als Gast, Moderatorin eines Panels der Konferenz und Aufsichtsrätin der Constructive Foundation habe ich einige Erkenntnisse für diejenigen mitgenommen, die keine Zeit zum Nachlesen und Nachhören haben:
Konstruktiver Journalismus ist nicht nur möglich, er wird auch reichlich praktiziert. Auf der Konferenz wurde ein ganzes Feuerwerk an Formaten aus aller Welt präsentiert, von denen man sich Anregungen holen kann. Dabei geht es beileibe nicht (nur) um gute Nachrichten. Auch investigativer Journalismus kann konstruktiv sein. Die ukrainische Journalistin Nathalya Gumenyuk, Direktorin des Public Interest Journalism Lab, betonte, die Aufklärung von Kriegsverbrechen sei konstruktive Arbeit.
Wer wegen Langeweile-Alarm schon lange keine Talkshows mehr schaut, sollte sich mit neuen Formaten beschäftigen, die vor allem in Skandinavien ausprobiert werden. Spektakulär ist die Politiker-Debatte des dänischen Senders TV2 aus Fünen, bei der Diskutanten verschiedener politischer Parteien ein Problem lösen sollen und dabei in einen Raum mit beweglichen Wänden eingesperrt sind. Kommen sie nicht voran, wird der Raum immer kleiner, der Druck damit größer. Acht von zehn Mal finden sie wirklich eine Lösung.
Wer Debatten konstruktiver führen möchte, kann sich einiges von anderen Berufszweigen abschauen, zum Beispiel von der Mediation oder Paartherapie. Dabei geht es vor allem um Gesprächstechniken, die das Gegenüber nicht in die Ecke drängen. Wie Ingvill Bryn Rambol vom Friedensnobelpreis-Komitee in ihrer Eröffnungs-Keynote sagte: „Guter Dialog kann Konflikte lösen, schlechter schafft sie erst.“
Eine konstruktive Bildsprache ist eine Herausforderung. Foto-Reporter arbeiten oft als Freiberufler und erfahren, dass sich spektakuläres Material meist besser verkauft. Zudem sind Bilder Momentaufnahmen und zwangsläufig aus dem Zusammenhang gerissen. Guter konstruktiver Fotojournalismus kostet vor allem Zeit, so der bild-Reporter Daniel Rye. Im Klimajournalismus sei es zum Beispiel wirkungsvoll, denselben Ort über einen längeren Zeitraum immer wieder zu fotografieren, um Veränderungen zu dokumentieren. Aber wer zahle ausreichend für einen Auftrag, der sechs Jahre in Anspruch nehme?
Im Klimajournalismus sind Redaktionen besonders auf konstruktive Formate angewiesen, denn die Veränderungen entwickeln sich schleichend, von Naturkatastrophen mal abgesehen. Zudem geht es darum, Menschen zu Verhaltensänderungen oder Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft zu Politikwechseln und Produktionsveränderungen zu motivieren. Dabei kann auch Gamification helfen, wie sie zum Beispiel die Financial Times forciert. Sie hatte kürzlich das Climate Game gelauncht.
Konstruktiver Journalismus kostet im ersten Anlauf Geld, perspektivisch bringt er aber auch mehr ein. Jeremy Griffin, Executive Editor der britischen Times, berichtete, dass dort konstruktive Geschichten zu mehr Leser Interaktionen und Loyalität führen sowie mehr Abos verkaufen. Allerdings kann es anstrengend sein, den Kulturwandel in Redaktionen hinzubekommen. TV2 hat alle Mitarbeiter in konstruktiven Formaten geschult. Ohne klare Vorgaben, wie viele Formate pro Woche oder Tag konstruktiv sein sollen, klappt es nicht.
Konstruktiver Journalismus ist keine westliche Spielerei sondern gerade dort wichtig, wo Medienhäuser oft Staatspropaganda verbreiten und gar nicht so sehr daran interessiert sind, die Bevölkerung wahrheitsgetreu und lebensnah zu informieren. Die Deutsche Welle punktet weltweit und besonders auch in Asien mit konstruktiven Formaten, die häufig über Youtube geteilt werden. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Georgien, dessen Intendantin Tina Bredzenishvili mitdiskutierte, schickt Redakteure zur Ausbildung nach Aarhus zum Constructive Institute. Ziel ist ein Journalismus jenseits von Verlautbarung und Krawall.
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