Der Journalismus hat ein Frauenproblem, und man muss nicht die Financial Times (FT) sein, um das als Chance zu begreifen. Die britische Finanz- und Wirtschaftszeitung hatte vor ein paar Jahren festgestellt, dass ein immenses Leserinnen-Potenzial in der Welt da draußen schlummern dürfte. Von 100 Leser*innen des Zentralorgans der Londoner City waren damals ungefähr 90 männlichen Geschlechts. Jeder auch nur halbwegs mit Marketing-Strategien vertraute Mensch begreift bei so einem Missverhältnis: Hey, da geht noch was! Und so machte sich die FT ans Werk, dachte über Leserinnen-Bedürfnisse nach, stellte mehr Frauen ein, setzte Themen anders, analysierte und veränderte die Bildsprache und entwickelte den Newsletter „Long Story Short“, der von Kolleginnen komponiert, aber auch von vielen Männern abonniert wurde. Und es ging was: Der Anteil der Leserinnen kletterte deutlich.
Viele Redaktionen tagesaktueller Medienmarken rätseln darüber, wie man Frauen stärker begeistern könnte, selbst wenn sie in der Beziehung besser dastehen als die FT oder andere Wirtschaftstitel. Forschung gibt es dazu kaum. Wer sich wenig Mühe gibt, tröstet sich deshalb mit Stereotypen. Frauen mögen halt weichere Themen, heißt es dann, Themen rund um Familie und Partnerschaft, Promi-Storys, Ratgeber- und Lokaljournalismus. Politik und Wirtschaft? Eher nicht. Komplett abwegig sind diese Annahmen nicht. Forscher*innen des Reuters Institutes in Oxford haben im vergangenen Jahr Daten aus dem Digital News Report daraufhin ausgewertet, wie Männer und Frauen in elf Ländern Nachrichten nutzen. Dabei zeigten sich Leser deutlich stärker an aktuellem Journalismus interessiert als Leserinnen, die Lücke lag durchgängig bei etwa zehn Prozentpunkten. Die Frage ist aber: Liegt es an den Themen selbst, oder können sich Frauen nur nicht mit deren Aufbereitung identifizieren?
In Erinnerung dazu bleibt ein Gespräch mit der irakisch-amerikanischen Journalistin und Frauenrechtlerin Zainab Salbi, die ihre Kindheit im Irak verbrachte und heute in den USA lebt. Salbi erzählte damals, sie sei mit Krieg aufgewachsen, habe aber als Mädchen Krieg ganz anders erlebt, als er in den Nachrichten dargestellt wurde. Dort sei es nur um Gewinne und Verluste gegangen, um Sieg und Niederlage, gezeigt worden seien Soldaten, Offiziere, Politiker – mehr Mann ging kaum. Sie aber sei von Frauen umgeben gewesen: Lehrerinnen, Ärztinnen, Verkäuferinnen, Müttern und Großmüttern – klar, die Männer seien ja meist abwesend gewesen. Hier könnte ein Indiz liegen: Politischer Journalismus, so wie er oft erzählt wird, hat mit der Lebenswirklichkeit vieler Frauen zu selten zu tun.
Das Portal Newsmavens, das für ein paar Jahre mit allein von Journalistinnen ausgewählten Inhalten experimentierte, bevor es 2019 eingestellt wurde, war in einer Bilanz zu ähnlichen Erkenntnissen gekommen. Frauen interessieren sich durchaus für Politik und Wirtschaft, aber eher für den Alltagsblick darauf, so die damalige Chefredakteurin Zuzana Ziomecka. Und auch die Reaktionen auf Plan W – das Wirtschaftsmagazin der Süddeutschen Zeitung – das sich vorwiegend an Frauen richtete, zeigten: Konstruktiver Journalismus kommt bei ihnen besser an als das ewige Kräftemessen und die Machtkämpfe, die der traditionelle politische Journalismus ins Zentrum rückt. Helden-Geschichten, wie sie im Wirtschaftsjournalismus oft erzählt werden, begeistern sie dafür weniger – das gilt übrigens auch für Heldinnen-Geschichten. Etwas mehr Forschung dazu wäre jedoch interessant und könnte den Journalismus bereichern.
Was die Studie des Reuters Institutes noch ergibt, führt auf eine weitere Spur. Frauen konsumieren Journalismus deutlich seltener lesend als Männer, sie hören lieber oder lassen den Fernseher laufen. Bei der Podcast-Nutzung ist das Geschlechterverhältnis deshalb sogar einigermaßen ausgewogen, wie Daten des Marktforschers Nielsen ergeben. Das hängt höchstwahrscheinlich damit zusammen, dass sich Frauen seltener als Männer ausschließlich mit der Weltlage beschäftigen, zum Beispiel am Frühstückstisch oder auf dem Weg zur Arbeit. Podcasts oder Radio kann man auch beim Kochen oder Wäschelegen hören oder während man das Kind zum Kindergarten fährt. Auch der Fernseher lässt sich als Nebenbei-Medium nutzen, wenn der Staubsauger nicht zu laut ist. Es sollte eigentlich niemanden wundern: Je mehr Care-Arbeit jemand leistet, desto weniger Zeit bleibt ihr oder ihm für den Journalismus.
Und dann haben die Oxford-Forscher*innen noch etwas belegt: Frauen verhalten sich in den sozialen Netzwerken anders als Männer. Sie kommunizieren viel mit Freund*innen und Familie, schalten sich aber seltener in politische Debatten ein. Ein Grund dürfte die deutlich höhere Wahrscheinlichkeit sein, mit der Frauen im Netz angegriffen, gemobbt und belästigt werden. Das mögen sich viele nicht antun.
Als Medienmacher*in kann man diese Dinge nun hinnehmen, oder man kann etwas tun. Am leichtesten ist es, mehr Frauen in der Berichterstattung sichtbar zu machen, die BBC hat in ihrem 50:50 Projekt gezeigt, wie und vor allem dass das geht. Einige Redaktionen – eher außerhalb Deutschlands – setzen bereits Bots als Mittel der Selbstkontrolle ein: Wie viele Frauen bilden wir ab, wie viele zitieren wir? Seitdem Covid-19 das Expertentum beflügelt, wurden es vielerorts weniger. Gebraucht werden mehr Journalistinnen an entscheidenden Stellen: in den meinungsbildenden und in den Investigativ-Ressorts. Die Zusammensetzung der Redaktion beeinflusst durchaus, ob die investigative Recherche in Steueroasen führt oder in die Nagelstudios um die Ecke, wo es reichlich Ausbeutung gibt (siehe: New York Times, „The Price of Nice Nails“). Nur wäre es naiv anzunehmen, dass allein das mehr Frauen an die Nachrichten bringt. Der Journalismus kann immer nur so gut sein wie die Gesellschaft, in der er wirkt. Diesen Ehrgeiz allerdings sollte er haben.
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