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Sturm im Wasserglas: Böhmermann, Merkel und Erdogan

von LINUS GÜNTHER am 15.04.2018

Böhmermanns Gedicht gegen Erdogan ist umstritten. Nun gibt Merkel eine Erklärung ab und lässt das Verfahren zu. "Der Rechtsstaat gibt sich die Ehre", feiert Spiegel Online sofort. Aber ist Merkels Erklärung wirklich ein Zeichen moderner Demokratie?

„Einer geht noch! Wir schmeißen nochmal eine letzte Runde! Jetzt nochmal mitmachen, jetzt noch dabei sein!“ – so oder so ähnlich wird der Mann auf dem Hamburger Dom wohl seine letzte Tombola an diesem Sonntag verkünden, bevor er all die Stofftiere und Elektroräder wieder einpackt, seinen Stand abbaut und von dannen zieht. Und so oder so ähnlich hört es sich an, wenn Angela Merkel verkündet, §103 StGB abschaffen zu wollen, aber gleichzeitig das Verfahren gegen Böhmermann zulässt. „Einer geht noch!“, hätte sie brüllen können. „Letzte Runde!“Das war mein erster Gedanke.

Aber vermutlich muss man Merkels Statement doch etwas differenzierter sehen. Merkel betont auch, dass das Zulassen des Verfahrens keine Verurteilung ihrerseits ist. Außerdem verweist sie auf die Zustände in der Türkei. Die Frau ist immerhin unsere Bundeskanzlerin. Sie wird sich gut beraten haben lassen. Und überhaupt: Wer bin ich eigentlich, dass ich es mir anmaße, irgendwas dazu öffentlich zu schreiben? Ich habe nie Jura studiert, bin kein Parteimitglied und (leider) auch kein Satiriker. Ich mache bloß ein Studium in der Medienbranche, habe ein paar Vorlesungen „Medienrecht“ (sehr!) genossen und schaue schon lange Böhmermann. Das meiste, das ich schreibe, wird denen, die sich nun schon seit Tagen mit dem Fall Böhmermann auseinandersetzen, bekannt sein. Trotzdem schreibe ich meine Meinung nieder; es herrscht ja schließlich Meinungs- und Pressefreiheit, oder?

Ja und nein. Früher auf dem Schulhof wurde sich nicht selten beleidigt. „Arschloch“ war so das Schimpfwort meiner Generation. Das war irgendwie okay. Wollte dann doch einer mal petzen gehen, wurde manchmal erwidert: „Geh‘ doch petzen! Wir leben in einem freien Land! Ich darf sagen, was ich will! Ist ja nur meine Meinung!“ – hier kann man eingreifen: Selbst wenn ich finde, dass jemand ein Arschloch ist, darf ich ihm das so nicht an die Stirn werfen. Oh Wunder, wer hätte das gedacht? „Arschloch“ ist auch nach deutschem Gesetz eine Beleidigung, das steht so in §185 StGB. Ja, im Strafgesetzbuch! Beleidigungen sind Strafbestand! Jedem, der sich jetzt vor Angst in die Hose macht, weil er den Paragraphen googelt und sieht, dass man mit „Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren“ bestraft werden kann, sei gesagt: Dieser Paragraph wird nur bei besonders schweren Beleidigungen angewandt. Die Schulhofzeit kann also doch in der Regel vernachlässigt werden. Schon klar.

Und was ist mit der Meinungsfreiheit? Nun, hier wird es schon etwas brenzliger: In unserem Grundgesetz steht zwar: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“ (Art. 5 GG), nur netterweise steht da auch: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (Art. 1 GG) Ich erinnere mich noch an Ulrich Michel, meinem Medienrecht-Professor aus meinem Bachelorstudium, der diesen Satz feierte: „Lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen: Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Er hielt Jura-Vorlesungen, bei denen man sich fühlte wie auf den letzten Seiten des letzten Harry Potter-Romans. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Was für eine geniale Idee, diesen Satz als ersten Satz unseres Grundgesetzes zu formulieren! Und ähnlich geht es in Art. 2 weiter. Aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ergibt sich in Deutschland das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist also ein Recht, das nirgendwo (abgesehen zum Beispiel von Ausnahmefällen wie dem Recht am eigenen Bild) wirklich präzise steht, sondern sich aus unserem Grundgesetz ergibt. Man spricht daher von einer gewohnheitsrechtlichen Anerkennung. Im Fall Böhmermann geht es nun also um die Abwägung zwischen Artikel 1 und 2 und Artikel 5 unseres Grundgesetzes. Eine Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Einzelnen und der Meinungs- und Pressefreiheit im Ganzen. Satire ist grundsätzlich von letzterer gedeckt! Nur ist Böhmermanns Text Satire? Zitate aus dem Gedicht haben wir in letzter Zeit häufig gelesen. Das „Ziegenficker“-Zitat ist wohl das Berühmteste aus Böhmermanns Gedicht. Doch auch sonst spart das Gedicht nicht an Beleidigungen: „Sein Kopf so leer wie seine Eier, der Star auf jeder Gangbang-Feier. Bis der Schwanz beim Pinkeln brennt, das ist Recep Erdogan, der türkische Präsident.“

In den letzten Tagen kam auch die Einbettung des Gedichts immer häufiger zu Wort. Und das ist richtig, denn ohne die ist das Gedicht ganz eindeutig Schmähkritik. Mit ihr, ist es nicht ganz so einfach. In der Sendung erklärt Böhmermann, dass es in Deutschland einen Unterschied gibt zwischen Schmähkritik und Satire. Letztere sei erlaubt, erstere nicht. Er betont ausdrücklich, dass sein Gedicht NICHT erlaubt ist. Nach dem Vortrag des Gedichts sagt er sogar voraus, dass der Beitrag zwar ausgestrahlt, jedoch anschließend aus der Mediathek verbannt wird! Böhmermann ist sich seines Vergehens also bewusst. Nun würde selbst das allein nicht helfen. Ich kann ja auch nicht zu einem Polizisten gehen und sagen: "Ich weiß, ich darf das nicht zu Ihnen sagen, aber Sie sind ein Arschloch." Logisch. Böhmermann bezieht sich ja aber auf die Reaktion Erdogans, der, verkürzt und zugespitzt formuliert, die Extra3-Satire verbieten lassen wollte, die eben gewöhnliche Satire war. Nun hätte Böhmermann diesen Unterschied sicherlich einfach verdeutlichen können. Er hätte sagen können: „Man darf in Deutschland niemanden einen Ziegenficker nennen.“ Die Aussage wäre die Gleiche gewesen, nur hätte die Botschaft keinen erreicht. Es ist der Job von Satire, Dinge zuzuspitzen und an gewissen Stellen zu übertreiben, um Botschaften zu verdeutlichen. Erdogan hat sich mit seiner Reaktion zur Extra3-Satire und durch den Umgang mit Journalisten in seinem eigenen Land angreifbar gemacht. Diesen Umgang zu kritisieren ist Aufgabe der Medien, Aufgabe der Satire. Böhmermann überschreitet mit seinem Gedicht sicherlich die Grenzen des guten Geschmacks, aber er nimmt damit Bezug auf ein aktuelles, politisches Ereignis. Ich finde, ein solches Gedicht sollte in dieser Situation mit einer solchen Einbettung erlaubt sein in Deutschland, aber ich verstehe, dass man das verschieden sehen kann. Ein Argument der Befürworter eines Urteils gegen Böhmermann ist, dass Erdogan nicht anders behandelt werden sollte als jeder andere Mensch. Und würde mich jemand Ziegenficker nennen, sollte ich ja auch das Recht haben, dagegen vorzugehen. Das bringt mich zu meinem letzten Punkt:

In Art. 3 unseres Grundgesetz steht: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Dann lese ich den viel zitierten Paragraphen 103 StGB, um den es im Fall Böhmermann laut der Medien zu gehen scheint: „Wer ein ausländisches Staatsoberhaupt […] beleidigt, wird […] bestraft.“ Und zwar mit bis zu einem Jahr mehr als bei "normalen" Bürger. Wenn ich das richtig verstehe, sind also alle Menschen gleich, nur nicht ausländische Staatsoberhäupter. Die sind irgendwie anders und haben mehr Rechte. Lese ich richtig? (Ich weiß, es gibt auch noch andere Ausnahmen im Gesetz: Kinder zum Beispiel werden im Gesetz auch anders behandelt. Nur leuchtet es mir bei diesen ein, warum das so ist.) Ja, tue ich wohl. Tatsächlich stammt der Paragraph aus dem Jahr 1871. Zu Zeiten des Kaiserreichs sollte der Paragraph das Recht monarchischer Oberhäupter schützen. Und möge sich Erdogan auch als Monarch sehen, Monarchie ist in Deutschland ziemlich out, schon ein bisschen länger.Und damit zurück zu Merkel: Merkel sieht offenbar ein, dass der Paragraph gestrichen gehört. Ihre Ankündigung, den Paragraphen bis zum Ende der Legislaturperiode abzuschaffen, ist eine Ansage. Nur das Verfahren dennoch zuzulassen, ist inkonsequent. Sicherlich werden nun viele schreiben, dass es gut ist, wenn sich die Politik nicht in die Judikative einmischt. (Und das stimmt auch. Die Einmischung von Politikern in die Rechtsprechung entspricht nicht unserer Gewaltenteilung und unserem Verständnis von Demokratie.) Aber Menschen, die das schreiben, vergessen, dass Erdogan auch einen „ganz normalen“ Strafantrag nach §194 StGB gestellt hat: Ganz "oldschool", oder "normalschool" sozusagen, wegen Beleidigung nach §185, wie oben beschrieben. Diese Klage kann Merkel gar nicht abweisen, denn es ist ein Strafantrag, wie jedermann ihn stellen könnte. Merkel hätte deutlich machen können: §103 StGB ist Majestätsbeleidigung und damit nicht mehr zeitgemäß. Sie hätte nicht nur die Abschaffung des Paragraphen fordern, sondern auch das Verfahren verhindern sollen, das Verfahren nach §103 StGB. Alles andere liegt durch §185 eh in der Hand der Justiz. Alles andere wäre eh seinen Weg gegangen. Damit hätte sie Erdogan gezeigt, dass sie für zeitgemäße Gesetze in einer modernen Demokratie steht und dass er eben nicht der Monarch ist, für den er sich hält und dementsprechend auch nicht nach einem Paragraphen aus dieser Zeit behandelt wird. Nachdem sie sich vor knapp zwei Wochen bereits zu dem Gedicht äußerte und es „bewusst verletzend“ nannte (wo war da die Gewaltenteilung?!), entzieht sie sich nun der Verantwortung. Böhmermann bleibt also ohne ihren Rückhalt und wird wohl auch seine nächste Sendung vor „Erschütterung“ absagen.Na toll: Dabei haben wir Studenten von der Hamburg Media School vor einem halben Jahr endlich voller Freude einige Tickets für nächste Woche ergattert. Die Fahrt nach Köln können wir wohl vergessen. Danke Merkel.

Anderer Meinung? Dann schreib mir gern an l.guenther@hamburgmediaschool.com!

Sturm im Wasserglas, wir haben ja sonst keine Sorgen.