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Wie könnte eine Ethik der Digitalisierung aussehen?

202009 Alexandra Borchardt 2

Digitalisierung wurde viel zu lange als technische Aufgabe verstanden, die es zu lösen galt. Dabei ist sie eine gesellschaftliche und kulturelle Herausforderung, die alle Lebensbereiche prägt und verändert. Für das Buch „Liberalismus neu denken“, herausgegeben von Ralf Fücks und Rainald Manthe, hat sich die journalistische Leiterin des JIP, Alexandra Borchardt, Gedanken über eine neue Ethik der Digitalisierung gemacht. Es folgt eine gekürzte Fassung des Kapitels, das gesamte Buch lässt sich beim Transcript Verlag bestellen oder kostenfrei herunterladen.

Für jedes Argument, das die Möglichkeiten der Digitalisierung feiert, gibt es ein anderes, welches ihre Gefahren beschwört. Ja, wir haben neue, individuelle Freiheiten. Viele von uns können nun arbeiten, wo sie wollen, unbegrenzt kommunizieren, Angebote vergleichen und quer durch das Netz shoppen. Dank der Plattform-Ökonomie lässt sich theoretisch aus allen Winkeln der Erde ein Weltmarkt erschließen. Man kann Server-Kapazitäten in Daten-Wolken mieten, noch vor dem Aufstehen seine Bankgeschäfte tätigen und sich günstig weiterbilden. Verglichen mit allem, was der Kapitalismus den Bewohnern der rein analogen Welt abverlangt hatte, haben die digitalen Strukturen Konsumenten und Entrepreneure ermächtigt. Und auch die bürgerlichen Freiheiten sind gewachsen. Wir alle können uns über verschiedenste Kanäle informieren, äußern, darstellen, politisch einmischen und notfalls rund um den Globus Verbündete suchen. Die Bedeutung der Druckerpresse schwindet, jeder kann sein eigener Verleger sein.

Aber die Digitalisierung beendet auch die Freiheit, wie wir sie kennen. Wenn alles miteinander vernetzt ist, kann kaum jemand unerkannt agieren. Unsere Wege, unsere Gewohnheiten, unsere Vorlieben, unsere Ausgaben, unsere Leistungen – mehr und mehr von dem, was früher ohne Spuren blieb oder in vereinzelten Akten verschwand, füttert heute Datenberge, von denen wir nicht wissen, ob sie irgendwann zu Friedhöfen oder gegen uns verwendet werden. Wo Algorithmen ohne Unterlass Datenpunkte sortieren, Bestseller zu Top-Sellern machen und weniger Gefragtes auf die Halde des Vergessens schieben, fragen wir uns zuweilen, was wir noch selbst entscheiden und wo in Wirklichkeit für uns entschieden wird.

Es ist umstritten, wer diese Freiheit am stärksten bedroht. Sind es die Tech-Konzerne des Silicon Valley, deren Geschäftsmodelle in den sozialen Netzwerken das Laute und Krasse belohnen und damit kultivierte Debatten so schwierig machen? Viele fühlen sich vom Bürger zum Konsumenten degradiert, den die Bequemlichkeit digital verfügbarer Dienstleistungen so schläfrig macht, dass er gar nicht spürt, wie er an der Leine der Algorithmen geführt wird. In Ländern, in denen Despoten und Autokraten regieren, fällt das Urteil über Facebook (neuerdings Meta) und Google milder aus. Wo Überwachung, Kontrolle und Propaganda zum Alltag gehören und man Stück für Stück um Informationen und Meinungsfreiheit ringt, da ergreifen viele jede Chance, sich zu vernetzten. Die Nebenwirkungen nehmen sie in Kauf, selbst wenn viele wissen: Jeder Schritt im Netz macht sie durchschaubarer, kontrollierbarer, angreifbarer.

Digitalisierung gestalten


Doch es geht anders. Es muss anders gehen. Wir müssen die digitale Welt gestalten, statt uns gestalten zu lassen. Die frühen Propheten der Digitalisierung hatten zwar Freiheit gerufen, sie aber nicht zu Ende gedacht. Die „Weisheit der Vielen“ wurde schnell zur Tyrannei der Lauten. Freiheit ohne Regeln gibt das Recht den Stärksten, sie mündet in Anarchie oder Diktatur. Hass und Hetze im Netz machen mundtot, statt zu ermächtigen. In der Demokratie gehört das Recht zur Freiheit wie die Tür zur Wohnung. Gebraucht wird eine neue Ethik der Digitalisierung, die für alle gilt: Regierungen, Unternehmen und jeden einzelnen Bürger. Freiheit, Recht und Verantwortung – erst als Dreigestirn dienen sie dem Menschen. Aber wie müsste eine Ethik der Digitalisierung in einer liberalen Welt aussehen? Dafür gibt es keine Blaupause, aber ein paar Grundsätze sollten gelten. Hier sind sieben, die ein Anfang sein könnten:

Erstens, die Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen muss abgesichert werden. Eine liberale Gesellschaft vertraut auf die Kraft von Individuen und deren Zusammenspiel in einem fairen, pluralistischen Wettbewerb. Vielfalt ist der Schlüssel zu gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Innovation und Prosperität. In einer Welt der digitalen Bewertungen, Likes und Klicks, in der Rankings und Hochrechnungen stets den Bestseller fördern und weniger populäres automatisch aussieben, bliebt Individualität auf der Strecke. Auch Menschen diskriminieren und schüchtern ein, aber Software tendiert dazu, Stereotype und Fehler zu potenzieren. Algorithmen müssen deshalb regelmäßig auf Diskriminierungsfreiheit überprüft werden. Menschen brauchen Möglichkeiten, im Zweifelsfall schnell und unkompliziert zu ihrem Recht zu kommen.

Zweitens, wir brauchen Kommunikationsplattformen, die Qualität fördern und Vertrauen bilden. Milliarden Menschen sind dieser Tage auf sozialen Netzwerken und Suchmaschinen unterwegs, aber nur etwa jeder Vierte gibt an, ihnen auch zu vertrauen. (1) Kein Wunder, denn dort lässt sich nur schwer auseinanderhalten, was seriöse Inhalte sind und was wegen anderer Eigenschaften in die Timeline gespült wurde, vor allem, weil es irgendwie schrill oder voyeuristisch ist. Die auf Anzeigenerlöse bauenden Geschäftsmodelle der Plattform-Konzerne sorgen dafür, denn sie zielen auf die Masse der Blicke und Interaktionen. Es ist naiv zu glauben, dass man Nutzer per Ansage von einer auf eine andere, „bessere“ Plattform umleiten kann. Also müssen innerhalb der Plattformen Grundregeln gelten. Zu den cleversten Ideen gehört es, statt sich vor allem mit dem Moderieren und Löschen von anstößigen oder illegalen Inhalten zu beschäftigen, verstärkt jene Beiträge mit Qualitätssiegeln zu versehen, die von vertrauenswürdigen Institutionen kommen und auf diese Weise bei der automatischen Sortierung aufzuwerten. Dies ist Kern der Journalism Trust Initiative, die von Reporter ohne Grenzen mit Unterstützung der European Broadcasting Union und der Nachrichtenagentur AFP initiiert wurde. Das größte Politikum ist die Frage: Was muss weg aus dem Netz? Die einen fordern, dass die sozialen Netzwerke „schädliche Inhalte“ löschen sollten. Diejenigen, die unter repressiven Regierungen leiden, befürchten dadurch aus leidvoller Erfahrung ein Einfallstor für Zensur. Einig sind sich alle nur darin, was auch der Europarat empfiehlt: Konsequent und zügig entfernt werden sollte das, was gegen Gesetze verstößt. (2)

(1) Siehe zum Beispiel Digital News Report, fortlaufende Untersuchung des Reuters Institute for the Study of Journalism, Universität Oxford, www.digitalnewsreport.org
(2)
Die Autorin war Expertin und Berichterstatterin im Experten-Ausschuss „Freedom of Expression and Digital Technologies“ des Europarats in der Periode 2020/2021 und deshalb an der entsprechenden Empfehlung beteiligt.

Drittens, die technologische Logik darf Menschlichkeit und Kreativität nicht mit Effizienz erdrücken. Die Logik der Technik ist die der Optimierung. Künstliche Intelligenz berechnet Lösungen aus Daten, je mehr davon vorhanden sind, desto genauer die Empfehlung. Wir kennen das aus den digitalen Routen-Planern: Alles steuert auf eine scheinbar optimale Lösung zu. Was rechts und links des Weges liegt, wird ignoriert. Aber so seltsam es klingen mag: Solch ein Streben nach Effizienz ist die Feindin der Innovation. Innovation erfordert Experimentierfreude, die Fähigkeit, Dinge zu verknüpfen, die auf den ersten Blick nicht zusammengehören, Probleme radikal anders zu lösen, als vorhandene Techniken dies nahelegen. In ihrem Buch „The Imagination Machine“ beschreiben Martin Reeves und Jack Fuller, wie Organisationen sich vom Korsett der Effizienz befreien und systematisch Vorstellungskraft trainieren können. Eine freiheitliche Gesellschaft lebt vom Denken, das Grenzen sprengt.


Viertens, gesellschaftliche Probleme müssen von der Gesellschaft gelöst werden, nicht von Technik. Technik ist verführerisch. Wer wünscht sich nicht, dass sich Hindernisse auf Knopfdruck beseitigen, alle Krankheiten mit einer Tablette heilen lassen – und das möglichst nebenwirkungsfrei. Technik kann ein Segen sein, aber sie verleitet dazu, zu stark auf sie zu bauen. Dass digitaler Wandel vor allem Kulturwandel ist, der die Machtverhältnisse zwischen Sendern und Empfängern berührt, müssen viele erst schmerzlich lernen. Manchmal fördert Technik erst zutage, wo Probleme liegen.

Fünftens, die liberale Gesellschaft braucht bürgerschaftliches Engagement.
Politische Beteiligung in der digitalen Gesellschaft, das sieht nach einer bequemen Sache aus. Eine Petition ist schnell geliked, ein Kommentar gepostet. Ich tweete, also bin ich? Das ist eine Scheinwelt. Bürgerschaftliches Engagement, politische Beteiligung sind und bleiben anstrengend. Sie fordern Einsatz, Arbeit, Mühe und Liebe zum Detail. Im Silicon Valley gibt es jene, die glauben, Politik habe ausgedient. Eine Art digital gesteuerte Super-Verwaltung sei alles, was der Bürger brauche. Dies verkennt, dass Politik die Kunst des Aushandelns zwischen unterschiedlichen Auffassungen und Interessen ist. Demokratie gedeiht im Ringen um die Lösung, die am besten zwischen divergierenden Interessen vermittelt.

Sechstens, im Zentrum der freiheitlichen Gesellschaft steht Bildung – digitale Bildung für alle. Bildung ist ein Aufstiegsversprechen, sie ist der Schlüssel, um gesellschaftliche Klassen zu überwinden. Noch nie waren die Möglichkeiten zur Bildung so hoch wie in der digitalen Welt, wo es unendlich viele Angebote kostenfrei über das Internet gibt. Und doch werden sie selten von denen genutzt, die davon am meisten profitieren könnten. Es muss darum gehen, Menschen aller Schichten Lust auf lebenslange Bildung zu machen. Die Formate dafür sind vielfältiger denn je.

Siebstens, unabhängige Medien brauchen Schutz und Stärkung. Journalismus wird oft als vierte Gewalt bezeichnet, auf jeden Fall ist er eine Säule der Demokratie. Dort, wo Menschen unabhängige Medien zur Verfügung stehen, gehen sie häufiger zur Wahl, kandidieren öfter für politische Ämter, werden Gemeindefinanzen besser gemanagt, weil eine Instanz von außen den Handelnden auf die Finger schaut. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk – und nicht ein als solcher verkleideter Staatsfunk – stabilisiert die Demokratie. Die Zeit der Gatekeeper sei abgelaufen, argumentieren manche, dank der sozialen Netzwerke bekämen die Menschen die große Debatte auch ohne Hilfe hin. Die Flut der Behauptungen und Lügen, die durch das Netz schwappt, demonstriert das Gegenteil. Menschen brauchen verlässliche Informationen, um sich zu orientieren, eine Meinung zu bilden, sich zu entscheiden. Die Pandemie hat gezeigt, dass dies im Zweifel Leben retten kann.